

Voyeurismus auf Museumsdächern
Tabea Soergel in FALTER 41/2014 vom 10.10.2014 (S. 23)
Der belgische Autor Jean-Philippe Toussaint fügt seiner großen "Marie"-Trilogie einen vierten Band hinzu
Das mit Marie sei jetzt auch mal gut, dachte man. Aber nein. Da ist sie wieder: anspruchsvoll, impulsiv und "ozeanisch", wie der Erzähler, ihr ehemaliger Lebensgefährte und penibler Dauerbeobachter, sie gerne nennt.
In seinem mittlerweile vierten Buch, "Nackt", das die unmögliche Liebe des namenlosen Protagonisten zu der Modedesignerin Marie Madeleine Marguerite de Montalte – oder besser: die unmögliche Trennung – auffächert, setzt Jean-Philippe Toussaint dort an, wo er mit "Die Wahrheit über Marie" aufgehört hat. Damals hielt man das Romanprojekt noch für dreibändig und damit abgeschlossen. Nun also Band vier der "Marie"-Trilogie.
Die kurze Liebesrenaissance auf Elba ist vorbei, aber so was von vorbei: Es ist Herbst und der Erzähler zurück im kalten, nassen, grauen Paris, genauso wie Marie, auf deren Anruf er zwei Monate lang vergeblich wartet. Diese Zeit scheint er hauptsächlich am Fenster stehend zu verbringen, was einen bei einem Toussaint-Protagonisten nun wirklich nicht verwundern sollte. Die Hauptfigur seines Debüts "Das Badezimmer" verlegt ihren Lebensmittelpunkt schließlich exklusiv in eine Badewanne.
Es passiert nicht besonders viel in "Nackt". Irgendwann gegen Ende Oktober ruft Marie dann doch noch an, und der Protagonist kehrt mit ihr nach Elba zurück. Die Insel hat allerdings keinerlei Ähnlichkeit mehr mit der duftenden, sommerlichen Version ihrer selbst. Während Elba im vorigen Buch noch von Waldbränden heimgesucht wurde, ist nun eine Schokoladenfabrik abgebrannt, und der Gestank begleitet das Ex-Liebespaar gemeinsam mit düster schwellenden Regenwolken auf Schritt und Tritt.
Darüber hinaus gibt es noch eine Beerdigung, eine Verhaftung und eine überraschende Neuigkeit. Aber es würde nicht nur der großen Lakonie zuwiderlaufen, mit der Toussaint diese Begebenheiten aus dem Ärmel schüttelt, sondern bei einem derart handlungsarmen Buch an Grausamkeit grenzen, hier weitere Details auch nur anzudeuten.
"Details" ist das Stichwort. An einer Stelle, im Zusammenhang mit Maries grenzenlosem Perfektionismus, der sie Kleider wieder und wieder umnähen lässt, erwähnt der Protagonist die "Details der Details": Nanodetails gewissermaßen, so winzig, dass sie sich dem Blick fast vollständig entziehen und doch wesentlich die Eleganz, die Tadellosigkeit der Gesamtkomposition mitbestimmen.
Nach diesem Prinzip verfährt auch Jean-Philippe Toussaint. Er versteht sich meisterhaft auf die Details der Details. Sein Stil ist wohl der subtilste und exquisiteste, den man in der zeitgenössischen Literatur nur finden kann. Und das wäre nicht einmal halb so viel wert, wenn er nicht auch zu den komischsten Autoren gehörte. Über die Jahre hat er seine Ironie solchermaßen verfeinert, dass mittlerweile eine kleine Dosis, ein Tröpfchen hie und da genügt, um klarzustellen, wer der coolste Hund in der Stadt ist. Man darf sich da wirklich nicht vom Autorenfoto in die Irre führen lassen.
Ebenso entscheidend wie die nackte Handlung ist – wie in eigentlich allen Bänden des "Marie"-Zyklus – das innere Geschehen des Protagonisten, seine auf- und abwogende Liebe zu Marie, auch dies allerdings aufs Elementarste reduziert, beinahe schon formalisiert. Natürlich weiß man als Leser jederzeit, dass er nicht von ihr loskommen wird, allen halbherzigen Lippenbekenntnissen zum Trotz. Und er selbst weiß es auch.
Er lässt, vermutlich zwei Monate lang stocksteif am Fenster seines Pariser Appartements stehend, die Vergangenheit Revue passieren, und das bedeutet in diesem Fall: Er kehrt in der Erinnerung zu allen Episoden und Schauplätzen zurück, die ihn mit Marie verbinden und die Toussaint in seinen drei vorigen Büchern beschrieben hat, zum Winter und Frühjahr in Japan und zum Sommer auf Elba. Der Autor weiß eben, was sich im letzten Band einer Romanreihe gehört. Marie, so gut wie immer abwesend, ist dabei die Matrix, vor der sich all das abspielt, der transparente Himmel, der ewige Bezugsrahmen des Protagonisten, der nur als Betrachter seiner eigenwilligen On-off-Geliebten voll und ganz zum Leben zu erwachen scheint.
Logischerweise geht es in "Nackt" deshalb viel um Wahrnehmung, um konservierte Bilder und Szenen als emotional aufgeladene Erinnerungsfragmente, um überpräzise Beobachtungen, die direkt in die Paranoia führen. Der eigene Körper wird zur Zielscheibe und der fremde Blick zur Waffe. In diesen Momenten, wenn er vor Wachleuten flieht oder in einer Mischung aus Voyeurismus und Panik auf teilverglasten Museumsdächern kauert, erinnert der Protagonist sehr an die schlaffen Helden früherer, experimentellerer Toussaint-Romane.
Auch unter diesem Aspekt ist "Nackt" ein Zirkelschluss. Während man als "Badezimmer"-Aficionado noch mit langen Zähnen am Elegischen der ersten "Marie"-Bände kaute, hat man mittlerweile seinen Frieden mit diesem tragironischen Liebespaar gemacht, und es ist noch nicht ganz entschieden, ob es, wie man sich gerne einredet, an der zunehmenden Wiederannäherung Toussaints an selige "Badezimmer"-Zeiten liegt oder man selbst doch einfach nur alt und sentimental geworden ist. Wahrscheinlich beides.
"Nackt" ist jedenfalls ein ganz und gar großartiges Buch und ein würdiger Abschluss der ganz und gar großartigen "Marie"-Serie, die nicht zuletzt auch eine für eine epische Trennungsgeschichte reichlich verblüffende Pointe bietet. Obwohl Jean-Philippe Toussaint über Pointen natürlich längst hinaus ist und auch aus dieser mutwillig gleich alle Luft lässt. Und jetzt, jetzt ist es wirklich mal gut mit Marie.