

Das Leben als getanzte Rhapsodie
Thomas Leitner in FALTER 41/2014 vom 10.10.2014 (S. 31)
So fett wie dicht: "Das achte Leben", der ein Jahrhundert umspannende Roman von Nino Haratischwili
Nino Haratischwili, 1983 in Tiflis geboren, kam mit zwölf Jahren nach Deutschland und begann früh fürs Theater zu arbeiten und schreiben. Schon ihre beiden ersten Romane fanden Beachtung, ihr Erstling schaffte es auf die Longlist des Deutschen Buchpreises. Zum Ärger ihres Verlegers Joachim Unseld gelang ihr das mit ihrem gewichtigen neuen Buch nicht.
Mit der Qualität kann das tatsächlich nichts zu tun haben, eher dürfte es Folge einer Überforderung der Juroren sein – 1300 Seiten dichter Prosa, die ein Jahrhundert umspannt, kann man so schnell nicht adäquat rezipieren. Autorin und Verlag mögen sich trösten: Ein derartig nachdrückliches Buch tanzt mehr als einen literarischen Sommer lang.
Es sollte ursprünglich ein Roman über die Perestroika werden. Doch als die Autorin mit einem Stipendium der Robert-Bosch-Stiftung in Georgien ihre Recherchen begann, wurde ihr schnell klar, dass sie weiter ausholen müsste, um etwas zu fassen im Strom der Geschichte dieses "kleinen Landes am Fuße eines Riesen". Ein Epos ist es geworden, das die Geschichte der Menschen im Kaukasus vom Zaren- über das Sowjetreich bis in die Wirren der Gegenwart erzählt.
Mit fast orientalischer Erzähllust, in die sich Töne der großen russischen Romantradition weben, hebt das Werk an. Als Tochter eines bis Paris und Wien gekommenen Chocolatiers wird 1900 die Urgroßmutter der Erzählerin im damaligen Vielvölkergemisch von Tiflis geboren. In dieser frauenlastigen Familie ist sie die erste von vielen starken Persönlichkeiten, die mit ihren Namen die einzelnen "Bücher" dieses Buches benennen.
Schon sie verfällt der magischen Erfindung ihres Vaters, einem Zaubertrank aus Schokolade, dessen Ingredienzien in finsteren Zeiten Glück und Rausch, ja selbst einen Hauch von Selbstbestimmung verheißen, gleichzeitig aber seltsam unheilschwanger in das Familienschicksal zu verstricken scheinen.
Eine weitere Leidenschaft kehrt in den weiblichen Gestalten des Romans immer wieder. Wie später noch ihre Ururenkelin und Namensvetterin Anastasia ("Auferstehung" klingt da im Namen durch) tanzt Stasia für ihr Leben gern. Jener jüngsten der Figuren, die ihren Namen in das georgische Brilka gewandelt hat, wird denn auch die Familiensaga tradiert: quasi als Drehbuch für ihr großes Projekt, das Leben ihrer Großtante – einer in der Emigration berühmt gewordenen Soulsängerin – als getanzte Rhapsodie darzustellen.
Im siebten und eigentlich letzten Buch tritt die Erzählerin auf. Sie ist biografisch nahe an der Autorin (auch sie in jungen Jahren nach Deutschland abgewandert), man möge sie aber nicht mit ihr verwechseln. Sie will ihrer Nichte dabei helfen, sich ihrer Herkunft zu vergewissern, ohne von der übergroßen Last der Familiengeschichte erdrückt zu werden, und dennoch das an Begabung und Genüssen so reiche Erbe ihres Landes weiterzutragen.
Dass das achte Buch aus einer leeren Seite besteht, versteht sich demnach als paradoxes Versprechen einer gedeckten Tabula rasa. Das gibt dem Roman seine Struktur. Es erhellt sich, dass in den vorhergehenden Kapiteln die Erzählerin dabei war, aus den unterschiedlichsten Quellen zu kompilieren, der Metapher des Teppichs folgend, ein Netz aus verschiedenen Strängen zu weben. Neben Teppichmotiv und den dunklen, roten Fäden der Schokolade tritt aber noch ein drittes Formprinzip.
Die Erzählerin (in ihrem Namen Niza, das georgische Wort für Kosmos) versucht vergeblich, Ordnung in die Konstanten und sich verschiebenden Konstellationen von Familie und Land zu bringen. Im Namen ihrer Schwester versteckt sich das Wort für Chaos, das stetigen Umsturz und Fortgang verspricht. Der Antagonismus dieser Kräfte erklärt manches, was zunächst befremdlich erscheint, wie manch exaltierte Tonlage oder mythisch abgehoben wirkende Szenen, etwa im belagerten Leningrad (da lässt übrigens Jonathan Littell grüßen).
Die Vielstimmigkeit innerhalb der stets aufgeregten Sippe inmitten der großen Kriege und Revolutionen des langen 20. Jahrhunderts erschreibt sie sich ebenso wie den ideologieindoktrinierten Diskurs ihres Großvaters, eines Repräsentanten der offiziellen Sowjetmacht.
Bei den Großmüttern und Tanten leben noch recht real wirkende Gespenster und Hexen, und ein guter Schuss von familiärem Namedropping ist auch dabei (wenn man schon vergewaltigt wird, muss das immerhin von Berija sein – sein Name allerdings wird, wie der Stalins, in abergläubischem Schrecken nicht genannt).
Auch ein Hauch des fernen Europa weht immer wieder herein, sei es in der Paris-Sehnsucht der 20er-Jahre, im Erzählstrang der in den Londoner Clubs der 70er-Jahre singenden Tante oder aus dem Berlin von heute. Ganz groß wird dieser gewagte Entwurf in seiner Offenheit: alles mitfühlen zu können, dabei aber nicht alles verstehen zu wollen, fast dokumentarisch zu erscheinen, und dann wieder, insbesondere angesichts des Wahnsinns, fiktiv zu werden.
Was für große Werke zumeist gilt, hier trifft es in besonderem Maße zu: Man möge zweimal lesen – auch wenn es dann für den Buchpreis zu spät ist. Gerade weil die Sprache des Buches nicht die Muttersprache der Autorin ist (sie selbst spricht von einem geborgten Kleid, das zum eigenen geworden ist), begegnet man immer wieder originellen Wendungen, die überraschen, ohne gesucht zu wirken. Auch dies trägt dazu bei, das Werk als außerordentlich zu empfinden.
Dieser Roman hätte sich aber auch ein ordentlicheres Lektorat verdient. So trifft manch interessante Eigenwilligkeit zu oft auf schlicht sinnentstellende Druckfehler.