

„Widerfahrnis“: Wenn ein Mann sehenden Auges zu weit geht
Sebastian Fasthuber in FALTER 43/2016 vom 28.10.2016 (S. 37)
Keine Frage, schreiben kann er. Bodo Kirchhoff (Jg. 1948) gilt seit vielen Jahren zurecht als einer der elegantesten Stilisten der deutschsprachigen Literatur, freilich häufig an der Grenze zur übertriebenen Süffigkeit. Liest man seine Bücher, fühlt man sich so, als hätte man zu schnell ein paar Gläser apulischen Rotwein gekippt.
So ergeht es einem auch mit der Novelle „Widerfahrnis“, die dem Autor den nicht nur lang ersehnten, sondern auch von ihm mitersonnenen Deutschen Buchpreis eingebracht hat.
Ein ehemaliger Kleinverleger, der sein Geschäft zugesperrt hat und aufs Land gezogen ist, trifft auf eine einstige Hutgeschäftsbesitzerin. Die Botschaft an die Leserschaft ist klar: Die Menschen nehmen sich keine Zeit mehr für ernsthafte Literatur, und für ordentliche Kopfbedeckungen interessiert sich auch niemand mehr. Alle paar Seiten streut Kirchhoff gezielt solche „Früher war alles besser“-Signale ein.
Aber fehlt da nicht noch was? Genau: Flüchtlinge. Der Autor, der seine bei-den Figuren nach einer ersten nächtlichen Begegnung überstürzt in den Süden aufbrechen lässt und bis Sizilien schickt, stellt ihnen ein wortloses Flüchtlingsmädchen unbekannter Herkunft sowie später noch einen medizinisch versierten Nigerianer samt Frau und Baby zur Seite. So müssen sich der Buchmann und die Hutfrau stellvertretend für den Leser brennende Fragen stellen: Soll man helfen? Wie kann man helfen?
Bis hin zum hochtrabenden Titel, hat Kirchhoff sich Mühe gegeben, alle Register zu ziehen: Italien, zwei einsame Herzen, die sich aneinander wärmen, und das alles vor dem Hintergrund des Flüchtlingsstroms. Für den Deutschen Buchpreis hat das gereicht, ein wirklich gelungenes Buch ist „Widerfahrnis“ jedoch nicht.
Kirchhoff ist aber ein zu guter Autor, als dass er nicht wüsste, manchmal zu weit gegangen zu sein. Wenn es kitschig wird, meldet er sich aus dem Off zu Wort: „Das hätte er in kein Buch aufgenommen“ und meint, dass sein Protagonist, der Kleinverleger, solche Stellen nicht hätte durchgehen lassen. Leider hat sich in der Realität kein Lektor gefunden, der sie aus „Widerfahrnis“ gestrichen hätte.