

Zwischen Schubert und Schmeißfliegen
Björn Hayer in FALTER 42/2021 vom 20.10.2021 (S. 20)
Martin Becker zeichnet in „Kleinstadtfarben“ das tragikomische Porträt eines Mannes am Rande des Nervenzusammenbruchs
Als Gott Schönheit, Anmut und Glück auf der Erde verteilte, ging einer leer aus: Peter Pinscher, Anfang 40, Ischiasproblemen, „ein massiges, gekrümmtes Häufchen Elend“. Hinzu kommen noch allerlei Laster: „Er frisst, statt zu essen, er säuft, statt zu trinken, er quarzt, statt zu rauchen. Wenn er verliebt ist, dann im Wahn, wenn er sich was wünscht, dann unbedingt. Er arbeitet nicht, er ackert, er ist nicht traurig, er krepiert vor Kummer.“
Wer den Protagonisten in Martin Beckers tragikomischem Roman „Kleinstadtfarben“ als einen Mann der Extreme auffasst, liegt goldrichtig. Für jede Enttäuschung gibt es einen Cheeseburger oder eine Fettbombe aus dem Thai-Imbiss. Und an Enttäuschungen herrscht kein Mangel.Nachdem Pinscher die Polizeilaufbahn einschlägt, bleibt er auf der Karriereleiter schon bald als Leichenbeauftragter seines Dezernats hängen.
Und als wären tote Menschen als tägliche Begleiter nicht schon genug des Unglücks, wird er zudem von seinen Kollegen und Kolleginnen verspottet. Erwartbar brennen dem Workaholic irgendwann die Sicherungen durch. Prompt folgt die Versetzung, zurück in das Provinznest, in dem er geboren wurde.
So beginnt der Text, der von Anfang an als ein dichtes Charakterporträt komponiert ist. Ausführlich schildert der 1982 im Sauerland geborene Autor den Alltag seines verkrachten Kommissars und gewährt uns zahlreiche Einblicke in eine versehrte Seele. Neben diesen Introspektionen weiß Becker durch seine herausragenden Milieuskizzen zu bestechen. Sie reichen vom mit Schmeißfliegenpopulationen übersäten Tatort bis zu detailreichen Schilderungen des Kleinstadtlebens. Für Komik sorgen dabei insbesondere die Polizeisprechstunden, aber auch kuriose Einsätze wie etwa die Befriedung eines von Einbildungen heimgesuchten Dorfschrecks.
Was in dem ländlichen Gebiet (im Gegensatz zur Großstadt) nicht mehr funktioniert, ist die stete Ablenkung von den eigenen Dämonen. Indem sich Pinscher wieder zu seinen geografischen und familiären Wurzeln begibt, muss er sich gleichsam den Gründen seiner Ängste stellen. Warum traut er sich abends kaum noch auf die Straße? Und was treibt ihn dazu an, sich beruflich ständig mit Verstorbenen zu befassen? „Ich will nicht sterben, unter gar keinen Umständen, also gucke ich der Sterberei der Anderen zu und lerne und lerne“, so der Held von der traurigen Gestalt.
Als Urtrauma entpuppt sich der frühe Tod des Vaters, den Pinscher nie richtig verwunden hat. Da nun auch seine Mutter schwächelt, muss er endlich ein Verhältnis zum Tod finden. Unterstützung findet er dabei bei einer alten Schulfreundin, in die er sich unglücklich verliebt. Auch die Aufklärung eines Mordes in der ach so friedfertigen Provinz trägt dazu bei, dass der in Dysbalance geratene Protagonist schlussendlich doch zu sich finden wird.
Obgleich Becker seine Geschichte – ein wenig behäbig – in eine streng lineare Erzählung packt, weiß er doch so manchen ästhetischen Funken zu zünden – etwa die Kriegsrhetorik, mit der die inneren Konflikte der Hauptfigur beschrieben werden. Dem entgegen steht das Streben nach Freiheit, sinnbildlich geworden in den von Pinscher in Obhut genommenen und am Schluss in die Natur entlassenen Wellensittichen.
Am eindringlichsten wirken allerdings die subtilen melancholischen Töne, die die Einsamkeit des Protagonisten unterstreichen. Schuberts „Winterreise“ oder Mahlers Rückert-Vertonung „Ich bin der Welt abhanden gekommen“ verleihen dem immer wieder mit grellem Humor aufwartenden Roman überraschende Tiefe. Sie eröffnen einen romantischen Sehnsuchtsraum jenseits der glanzlosen und von Routinen gezeichneten Realität. Wer also schreibt hier? Ein verkappter Träumer? Ein Eskapist? Ein Ästhet oder Psychologe? In jedem Fall ein exzellenter Erzähler, der die Form und die Darstellung von Gefühlslagen gleichermaßen beherrscht.