

"Netanjahu koaliert mit religiösen Fanatikern"
Tessa Szyszkowitz in FALTER 41/2024 vom 09.10.2024 (S. 21)
Amir Tibon hebt im Auto ab, für mehr hat er nicht die Zeit. Sein Land ist im Krieg. Israels Armee ist im Süden des Libanon eingerückt und bombardiert Beirut, Hisbollah-Raketen regnen auf Tel Aviv. Die meisten fängt das Raketenschutzschild Iron Dome ab. Aber wer weiß? Tibon und die Redaktion von Ha'aretz berichten jeden Tag über alle Aspekte des Konflikts. Seit einem Jahr ist das immer schwieriger geworden: es werden immer mehr Kriegsschauplätze.
Der 35-jährige Tibon ist diplomatischer Korrespondent der linksliberalen Zeitung. Er hat seine Kindheit im Norden Israels verbracht, er war früh daran gewöhnt, dass Raketen aus dem Libanon auf israelische Dörfer fallen. Dann aber lernte er am 7. Oktober 2023, dass auch der Süden des Landes, in den er 2014 mit seiner Frau Miri gezogen war, lebensgefährlich war: Die Hamas überfiel im Morgengrauen den Kibbuz Nahal Oz unweit des Gazastreifens.
Die Familie harrte mit ihren zwei kleinen Töchtern im Schutzraum aus, bis sie von Tibons Vater Noam und israelischen Soldaten in einer spektakulären Aktion am Ende des Tages befreit wurden. Darüber hat Amir Tibon soeben ein Buch veröffentlicht. "Die Tore von Gaza" sind auch ein Versuch, sich im Kriegschaos zurechtzufinden. Falter: Herr Tibon, der Krieg hat sich auf den Iran ausgeweitet. Steuert Ihr Land auf eine Katastrophe zu?
Amir Tibon: Im Süden wurden Regierung, Armee und wir vor einem Jahr am 7. Oktober von der Hamas überrascht. Aber im Norden ist es ganz anders: Es gibt einen strategischen Plan. Den Krieg gegen die Hisbollah hat Israel lang vorbereitet. Seit dem Ende des letzten Libanonkrieges 2006 wurden alle nachrichtendienstlichen Ressourcen in die nördliche Front investiert. Spezialeinheiten, Panzertruppen -auch vor einem Jahr, gerade vor dem 7. Oktober, war der Blick immer nach Norden gerichtet.
Die Gefahr, die von Hamas im Süden ausging, wurde unterschätzt, die der Hisbollah nicht?
Tibon: Ja. Es gibt den Krieg, auf den sich Israel vorbereitet hat, und den Krieg, auf den es sich nicht vorbereitet hat. Im Norden geht Israel vor wie geplant und kann militärische Erfolge verbuchen. In Gaza dagegen nicht. Da kämpfen wir nach einem Jahr immer noch. Israel kann eine Weile an zwei Fronten kämpfen, aber nicht auf Dauer. Solange die Armee in Gaza im Einsatz war, konnte der Kriegsplan für den Norden nicht umgesetzt werden. Jetzt, nach einem Jahr, haben sich die Kämpfe in Gaza beruhigt, die Militärpräsenz in Gaza wurde zurückgefahren und die Truppen sind in den Norden verlegt worden.
Im Libanon warten allerdings zehntausende gut ausgebildete und bis an die Zähne bewaffnete Hisbollah-Kämpfer auf die israelischen Soldaten -ist Israel nicht wie in Gaza im Nachteil auf feindlichem Boden, wo die Zivilbevölkerung die Kämpfer oft schützt?
Tibon: Wir sind militärisch viel besser vorbereitet als die Hisbollah. Wir haben nicht nur sehr gut ausgebildete Soldaten, wir haben die Unterstützung der USA. Es wird sicher Opfer geben. Aber dieser Krieg wird planmäßig durchgeführt.
Ist auch das Ende durchdacht? Will Israel nach der Zerstörung der Hisbollah-Strukturen im Süden des Landes bleiben?
Tibon: Das ist das Problem: Die militärische Operation ist geplant. Aber die langfristige Strategie? Wo sehen wir uns in einem Jahr? Wollen wir eine dauerhafte Besetzung von Teilen des Libanon? Ich bin mir nicht sicher, dass unsere Regierung darauf eine Antwort hat.
Als diplomatischer Korrespondent können Sie die amerikanische Haltung gut einschätzen. Bleiben die USA an der Seite Israels, egal was Ihre Regierung tut?
Tibon: Wenn Iran Israel direkt angreift, helfen die USA selbstverständlich. Das Central Command der US-Armee war direkt eingebunden, sowohl die Marine als auch die Luftabwehr. Die Vereinigten Staaten sind in einer schwachen Position. Ihnen sind wegen der anstehenden Wahlen die Hände gebunden. Die Administration von Joe Biden und Kamala Harris unterstützt Netanjahus Vorgehen nicht unbedingt - vor allem in Gaza nicht. Sie sehen auch die Eskalation mit dem Iran sehr kritisch. Statt eines Waffenstillstands in Gaza weitet sich der Krieg auf die Region aus. Amerikanische Diplomaten sagen, dass sie fürchten, dass die Geiseln in Gaza nie freikommen - darunter sind auch amerikanische Staatsbürger. Aber sie können Netanjahu nicht in den Arm fallen, weil sie fürchten, dass dies Donald Trump im Wahlkampf nützen könnte.
Versucht Israels Premierminister Benjamin Netanjahu deshalb, noch so schnell wie möglich seine Pläne durchzuziehen?
Tibon: Netanjahu ist auf sein eigenes politisches Überleben konzentriert.
Israel kann zwar die militärischen Kapazitäten von Hamas und Hisbollah reduzieren. Aber braucht es nicht parallel dazu einen politischen Plan?
Tibon: Im Moment ist eine politische Lösung kaum denkbar. Saudi-Arabien war vor dem 7. Oktober zu einer Annäherung an Israel bereit. Seit dem Krieg in Gaza ist es viel schwieriger geworden, eine Normalisierung mit Israel anzugehen. Das wird also noch eine Zeit dauern. Der saudische Kronprinz Mohammed Ben Salman forciert im Austausch mit einer Annäherung an Israel ein offizielles Verteidigungsabkommen der USA mit Saudi-Arabien, das auch Sicherheitsgarantien zum Inhalt hat. Dafür braucht es eine Zweidrittelmehrheit im Kongress. Das ist mit einem demokratischen Präsidenten viel leichter möglich als mit einem republikanischen. Aber dafür muss Kamala Harris erst einmal gewinnen.
Saudi-Arabien wird aber auch nur dann einem Abkommen mit Israel zustimmen, wenn die Palästinenser berücksichtigt werden. Oder hoffen das wieder nur die Palästinenser?
Tibon: Eines ist klar: Netanjahu kann keinem palästinensischen Staat oder etwas Vergleichbarem zustimmen. Nicht mit der Koalition, mit der er regiert. Er steckt fest, seine Position ist sehr schwach. Sie dürfen diese rechtsextremen Minister in unserer Regierung nicht mit den rechtsextremen oder rechtsradikalen Politikern in Europa vergleichen, die bei Ihnen gerade stark sind. Diese Minister hier in Israel sind nicht einfach rechtsradikal, weil sie gegen Einwanderung sind. Netanjahu koaliert mit wahrhaftigen religiösen Fanatikern. Sie haben eine messianische Sicht auf die Welt. Bezalel Smotrich hat von Netanjahu ein Veto bekommen gegen einen neuen Geiseldeal, damit er in der Koalition bleibt. Smotrich will den Krieg nicht stoppen, also verhindert er ein Abkommen, das die Geiseln aus den Tunneln der Hamas befreien könnte.
Hilft der Krieg im Libanon Netanjahu, an der Macht zu bleiben?
Tibon: In den Umfragen geht seine Popularität weiter zurück. Aber es ist eigentlich egal, wir haben ja keine Wahlen. Solange er seine Koalition zusammenhalten kann, bleibt er an der Macht.
Sie haben mit Ihren Töchtern und Ihrer Frau den Angriff der Hamas auf Ihren Kibbuz überlebt. Wie geht es Ihnen heute, wie geht es den Kindern?
Tibon: Wir sind nicht die Einzigen, die so ein Trauma erlebt haben. Das Wichtigste ist, sich Hilfe zu suchen. Und zu wissen, wenn man eine Therapie braucht. Keine Zeit zu verschwenden. Unsere Mädchen haben wir gleich gut versorgt. Ich selbst war gerade in den USA, in Frankreich und in Deutschland, um mein Buch vorzustellen. Ich habe in Hotels geschlafen, ich bin an öffentliche Orte gegangen. Es ist alles gut gegangen. Aber es braucht Zeit.
Der Titel Ihres Buches "Die Tore von Gaza" bezieht sich auf die biblische Geschichte von Samson, der so stark war, dass er die Tore der Stadt Gaza auf seinen Schultern tragen konnte, um damit die Hebräer von den Philistern zu befreien. Beziehen Sie sich auf Ihren Vater, der aus Tel Aviv in Ihren Kibbuz fuhr, um Sie zu befreien?
Tibon: Aber nein. Ich beziehe mich auf eine Rede von Mosche Dayan 1956. Damals wurde Roi Rutberg, ein Wachsoldat von Nahal Oz, unserem Kibbuz, von Palästinensern ermordet und seine Leiche nach Gaza verschleppt.
Beim Begräbnis von Rutberg sagte General Dayan im Kern: Natürlich hassen uns die Palästinenser, wir haben ihnen ihr Land weggenommen.
Tibon: Dayan war ein Bibelexperte und er hatte verstanden, woher dieser Hass kam. Ein großer Teil meines Buches ist der Geschichte des israelisch-palästinensischen Konflikts gewidmet. Ich wollte erklären, wie alles gekommen ist. Ich will hier keine Botschaft aussenden. Mir ging es darum, die Geschichte von unserem Kibbuz dort direkt neben Gaza zu erzählen.
Wieso haben Sie sich dazu entschlossen, mit Ihren Kinder in diese Gefahrenzone zu ziehen?
Tibon: Wenn Nahal Oz nicht sicher ist für Israelis, ist es dann nicht überall gefährlich? Wir waren an sich glücklich im Kibbuz, es war schön dort, die Gemeinschaft ist wunderbar. Und die Gefahren hatten wir eingerechnet. Kein Ort ist wirklich sicher. Und keines dieser Grenzdörfer wird jemals sicher sein. Wir leben hier im Nahen Osten, nicht in der Schweiz. Aber der 7. Oktober hätte nie passieren dürfen. Wir hatten viel zu viel Vertrauen in die Regierung und in die Armee.
Wollen Sie nach dem Krieg wieder zurück nach Nahal Oz?
Tibon: Wir brauchen starke Nerven hier und die haben wir auch. Aber wir brauchen auch einen starken Staat. Unserer ist leider geschwächt von Korruption, von politischen Interessen, die über jene der Bevölkerung gestellt werden. Das muss sich wieder ändern. Der einzige Weg, wirklich langfristigen Frieden an der Grenze zu schaffen, besteht darin, Frieden mit den Menschen zu schließen, die auf der anderen Seite leben. Vielleicht ist es im Moment nicht möglich. Dann muss die Regierung für Sicherheit sorgen. Wenn die Regierung richtig in diese Dörfer investiert, dann könnte ich mir vorstellen, dass wir zurückgehen.