Ernst Jandl 1925–2000

Eine konkrete Biographie
592 Seiten, Hardcover
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ISBN 9783662666388
Erscheinungsdatum 23.06.2023
Genre Sprachwissenschaft, Literaturwissenschaft/Allgemeine und Vergleichende Sprachwissenschaft
Verlag Springer Berlin
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Kurzbeschreibung des Verlags

Ernst Jandl (1925–2000) gehört zu den wichtigsten Lyrikern des 20. Jahrhunderts. Mit Lettern- und Lautgedichten machte er sich in den 1950er Jahren in seiner Heimat Wien zum Außenseiter, fand jedoch rasch Anerkennung in den Zentren der Konkreten Poesie in Stuttgart, Prag, London. Wie ein Popstar entführte er bei lautstarken Auftritten die Jugend der Revolte-Generation mit Sprachwitz und -spiel in die Schmerzbezirke von Krieg, absurdem Alltag, Liebesdefizit. Er setzte dem hohen Ton eine „heruntergekommene“ Sprache und unterkühlten Dialekt entgegen. Mit der Lebenspartnerin Friederike Mayröcker schuf er Pionierwerke des ‚Neuen Hörspiels‘. Hans Haider legt nach Archivrecherchen in halb Europa und jahrzehntelanger Tätigkeit in der Wiener Kulturszene als Kritiker und Herausgeber die erste umfassende Jandl-Biographie vor.

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FALTER-Rezension

Ein Pedant der Avantgarde

Klaus Nüchtern in FALTER 42/2023 vom 18.10.2023 (S. 4)

Dass jemand „in aller Munde“ sei, ist allemal eine rhetorische Figur der Übertreibung. Auf Ernst Jandl gemünzt indes scheint sie besonders gut zu passen: Zum einen, weil Claudia Bauers hochgelobte und -dekorierte Volkstheater-Produktion „humanistää!“ (nächste Vorstellung: 23.12.) den Dichter tatsächlich wieder ins Gespräch gebracht und diesem ein neues Publikum erschlossen hat; zum anderen, weil der Mund als Sprech-, Schrei-, Sauf- und Rauchorgan im Werk dieses so unlyrisch gestimmten Lyrikers eine zentrale Rolle spielt. Nicht umsonst sind Jandls Frankfurter Poetikvorlesungen Mitte der 1980er-Jahre unter dem Titel „Das Öffnen und Schließen des Mundes“ erschienen.

1966 hatte der damals bereits 40-Jährige mit der Veröffentlichung des Bandes „Laut und Luise“, der zehn Jahre nach dem Debüt „Andere Augen“ erschien, seine experimentelle Wende vollzogen. Schon der Titel spielt auf die akustische Realisation der Textpartituren an. „Laut und Luise“ kann als Kombination zweier Substantive – der Name ist auch jener von Jandls frühverstorbener Mutter –, aber auch als adjektivisch als „laut und leise“ gelesen werden.

In dieser Lesart wird Jandls Methode des produktiven Verlesens und Versprechens, der phonetischen Korrumpierung manifest, wie er sie in seinem berühmten Gedicht „fortschreitende räude“, einer Travestie der ersten Verse aus dem Johannes-Evangelium, auf die Spitze getrieben hat: „him hanfang war das wort […] schund das wort schist fleisch gewlorden schund schat schunter schuns gewlohnt“.

Wie sehr dergleichen Lautgedichte von der Performance durch den Verfasser abhängen, sollte sich bereits am 11. Juni 1965 in der Londoner Royal Albert Hall erweisen. Anlass und offizieller Star der International Poetry Carnation war der ein Monat zuvor in Prag zum „Maikönig“ gekrönte und wegen Trunkenheit und Anstiftung zur Homosexualität aus der Tschechoslowakei ausgewiesene Beat-Poet Allen Ginsberg, der danach in London aufgeschlagen war.

Die Show stehlen sollte ihm und den anderen neunzehn Teilnehmern – allesamt Männer, unter ihnen Ginsbergs Beat-Brothers Gregory Corso und Lawrence Ferlinghetti – ein unbekannter, nicht sonderlich imposanter Poet mit dicker Brille. Der Auftritt des sichtlich von der eigenen Wirkung berauschten Lautlyrikperformers ist in Peter Whiteheads halbstündigem Dokumentarfilm „Wholly Communion“ festgehalten. Mit Gedichten wie der erwähnten „fortschreitenden räude“, dem vokalfreien „schtzngrmm“ und der aus den lauten des Namens Napoleon komponierten „ode auf n“ riss er die Zuhörerschaft – die Schätzungen belaufen sich auf fünf- bis achttausend – zu Begeisterungsstürmen und Mitmachchören hin.

„Das Merkwürdige“ an Jandl sei, so befand viele Jahre später der DDR-Dramatiker Heiner Müller, „diese Einheit […] zwischen Person und Text. Wenn er seine Texte vorträgt – das kann niemand wie er –, ist das wie in alten Kulturen eine orale Kultur, die es eigentlich überhaupt nicht mehr gibt“.

Genau mit diesem Phänomen, dem er einen Gutteil seines Ruhms und seiner Popularität verdankte, sollte Jandl in den von Schreibkrisen überschatteten letzten beiden Lebensjahrzehnten hadern: Er habe nie die Absicht gehabt, jahrelang „vor allem zu schreiben, um mich dann für den Rest meines Lebens als Vortragskünstler feiern zu lassen“, bekannte er 1987.

In den 1950er- und 1960er-Jahren war der Kulturbetrieb noch fest in der Hand des reaktionären Establishments. An dessen Spitze stand als Repräsentant katholisch-konservativer Kontinuität Rudolf Henz. In den 1930ern war der Schriftsteller nicht nur Kulturfunktionär der Vaterländischen Front gewesen, sondern hatte auch den Text zum „Dollfuß-Lied“ beigesteuert. Nach dem Krieg avancierte er zum Programmdirektor des Österreichischen Rundfunks und erhielt 1953 den Großen Österreichischen Staatspreis in der Sparte Literatur, der von den Austrofaschisten eingeführt und gleich einmal an Nazis wie Karl Heinrich Waggerl und Maria Grengg vergeben worden war.

Als „rotes“ Vis-à-vis und „Geschmackszwilling“ (Hans Haider) stand Henz dessen nicht ganz so reich dekorierter Rundfunk-Kollege Ernst Schönwiese gegenüber, Leiter der Abteilung Literatur, Hörspiel und Wissenschaft. Und schließlich vervollständigte Wolfgang Kraus als Gründer und jahrzehntelanger Leiter der Österreichischen Gesellschaft für Literatur (ÖGL) das Triumvirat kultursinniger Strippenzieher. Als öffentliche Person war Kraus ein wahrer Tsunami der Betulichkeit, seinem Tagebuch aber, aus dem Haider wiederholt zitiert, vertraute er seine tatsächliche Meinung an – etwa über einen Auftritt, zu dem er Jandl im Herbst 1976 in die ÖGL geladen hatte: „Mehr akustisches als literarisches Phänomen. Emotional kümmerlich, bestenfalls stereotype Renitenz, brutal, wenn andere es zulassen, formal neo-dadaistisch.“

Weniger antizipierbar als die Angriffe der abendländischen Front war der Widerstand aus dem eigenen Lager. Anlässlich einer ersten Lesung aus „Laut und Luise“ wurde Jandl – SPÖ-Mitglied seit 1951 bis zu seinem Lebensende – ausgerechnet in der Arbeiter-Zeitung verhöhnt, und nicht einmal in der eigenen „Familie“ durfte er sich vorbehaltlos angenommen fühlen. In seiner persönlichen Genealogie der „Wiener Gruppe“ hatte er H.C. Artmann und Gerhard Rühm die Rolle von Vater und Mutter, sich selbst die des Onkels zugewiesen. Dass Mama und Papa ihn gelobt, der Dichter und Architekt Friedrich Achleitner allerdings „sein Gesicht verzog[en]“ hatte, war ihm noch vierzig Jahre danach eine Anmerkung in der Werkausgabe wert.

Der Dandy, den Kollegen wie Artmann, Konrad Bayer oder Oswald Wiener glaubhaft zu verkörpern wussten, war kein Rollenfach für den Deutsch- und Englischprofessor Jandl, der selbst zum Wandertag in grauem Fischgrät-Sakko, weißem Hemd und gestreifter Klubkrawatte antrat, wie sich ein Schüler erinnerte. Ihm fehle, so bekannte Jandl, „jedes Gefühl fürs sogenannte Geniale, und damit auch jeder Sinn für poetische Lebensführung“.

Formal experimentierfreudig und thematisch von existenzieller Unverblümtheit, eignete Jandl zugleich der Habitus eines geradezu pathologisch pedantischen und autoritären Beamten, dessen cholerische Anfälle gefürchtet waren: „Wenn wir einmal einen Krieg auszufechten haben“, befand der Schweizer Schriftsteller Urs Widmer sarkastisch, „spannen wir ihn vor unseren Karren und er schreit uns eine Schneise in die Feinde hinein.“ Selbst „Fritzi“, wie die poetologisch und humoralpathologisch so ganz anders verfasste Kollegin und Lebensgefährtin Friederike Mayröcker von ihm genannt wurde, war nicht davor gefeit, in aller Öffentlichkeit abgekanzelt und heruntergeputzt zu werden.

Als Biograf ist Hans Haider, der über drei Jahrzehnte als Theater- und Literaturkritiker der Presse tätig war, fraglos ein hoch privilegierter Autor. Seine Bekanntschaft mit dem Künstlerpaar Jandl/Mayröcker datiert aus dem Jahr 1972 und entwickelte sich bald zur Freundschaft. Belegt wird dies durch Jandls 1979 uraufgeführtes Stück „Aus der Fremde“. In dieser offen autobiografischen „Sprechoper“ über den Alltag eines Schriftstellerpaares ist mit der Rolle des Freundes, „er2“ genannt, niemand anderer gemeint als Haider. Umständlich, devot und doch nicht unaufdringlich teilt er dem Paar mit, dass er soeben eine Wohnung vis-à-vis der bescheidenen Dichterklause von „er1“ erworben habe: „daß es eine wohnung / von nicht geringem / ausmaß sei […] // daß er damit rechne / in einem halben jahr / mit der frau und dem jungen dort einzuziehen // und daß sie dann / praktisch nachbarn wären / und einander würden zuwinken können.“

Jandl selbst hat in Werken wie dem „selbstporträt des schachspielers als trinkende uhr“ (1983) oder den „idyllen“ (1997) die eigene psychische und physische Hinfälligkeit, seine Depressionen und seine Trunksucht gnadenlos und alle ohne metaphorische Umwege benannt. Auch Haider spart in seiner Biografie nichts aus, erspart uns kein Detail, dessen er habhaft werden konnte. Und das sind bei einem dermaßen zwänglerisch veranlagten Mann – gemeint ist Jandl, dem sich sein Biograf freilich mimetisch anverwandelt haben mag – naturgemäß sehr, sehr viele. Kein Auftritt, keine Treffen und kein noch so apokryphes Projekt bleibt unerwähnt und ohne Fußnote, von denen einige auch sämtliche Psychopharmaka inklusive Tagesdosierung auflisten, die dem bresthaften Poeten verordnet wurden.

Im gnadenlosen Faktenhagel, den Haider entfesselt – allein das Personenregister umfasst weit über tausend Personen und die lückenreiche Genealogie Ernst Jandls reicht zurück bis ins 18. Jahrhundert –, finden sich selbstverständlich auch viele signifikante und spannende Biographeme, die ein komplexes Bild dieses, gelinde gesagt, janusköpfigen Autors ergeben. Die Leserinnen und Leser müssen es nur mühsam selbst zusammensetzen.

Die positivistische, faktenversessene Manier seiner „konkreten Biographie“ und seine Weigerung, Details und Ereignisse zu selektieren, zu gewichten und zu einer Narration zu fügen, begründet Haider unter Berufung auf den französischen Soziologen Pierre Bourdieu und dessen Vorbehalten gegenüber „L’illusion biographique“, der biografischen Illusion also, die ein Leben als in sich geschlossene und sinnvolle Erzählung präsentiert.

Mehr als eine etwas hochmütige und unredliche Ausrede ist dieses manichäische Entweder-oder freilich nicht, denn selbstverständlich stünden einem Biografen mehr Optionen und Modi des Erzählens zur Verfügung als die zwischen Helden-Vita und Datensammlung.

Die Geschichte vom Jandl Ernst aus bürgerlichem, brav katholischem Hause, der 16-jährig das Hausmädchen schwängert (der Papa zahlt die Alimente), in Kriegsgefangenschaft gerät, Gymnasiallehrer wird und auszieht, die Poesie zu revolutionieren, der mit dem Brotberuf hadert (von dem er schließlich befreit wird), unter den jahrzehntelang beengten Wohnverhältnissen leidet und von Staat, Kanzler, Minister und Stadträtin erwartet, sie mögen all diesen Unzumutbarkeiten ein Ende bereiten, sie blitzt in Haiders Biografie, die unzweifelhaft eine Pionierleistung darstellt, immer wieder auf. Sie auch zu erzählen bleibt freilich anderen aufgetragen.

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