
Befreit uns doch von falschen Idolen und Ideologen
Johann Skocek in FALTER 11/2018 vom 14.03.2018 (S. 22)
Nicola Werdenigg weist in „Ski, Macht, Spiele“ den Weg zu einem neuen Verständnis des Skirennsports
Das traumatische Erlebnis ihres Lebens kommt in Nicola Werdeniggs Buch fast beiläufig vor. Es ist die Geschichte eines Mädchens, das für den Skirennsport alles getan hat und sich fast alles gefallen lassen hätte. Fast. Nun ist Werdenigg eine erfahrene Kommunikatorin, die nach 40 Jahren das Schweigen über eine Vergewaltigung durch einen Mannschaftskollegen gebrochen und eine Neubewertung des Abhängigkeitsverhältnisses von Sportlerinnen und Sportlern einerseits und Betreuern andererseits angestoßen hat. Den Anlass bot die Schlampigkeit der heimischen Medien, die über die Übergriffe eines Volleyballtrainers an seinen Schützlingen kaum berichteten.
Die weltweite #MeToo-Bewegung hat vielen Betroffenen Mut gemacht, über ihre traumatischen Erlebnisse zu sprechen. In Österreich sind seit dem „Sportmonolog“ Werdeniggs im Standard der mit nationaler Bedeutung aufgeladene Skirennsport und der Österreichische Skiverband (ÖSV) und seine „Helden“ nicht mehr das, was sie noch vor Jahresfrist waren. Nicht nur Werdeniggs und anderer Betroffener Geschichte, auch die patscherten Reaktionen des ÖSV-Präsidenten Peter Schröcksnadel, die Angriffe populistischer Politiker und des ÖSV-Partnermediums Kronen Zeitung haben den Diskurs über Machtverhältnisse im Sport nachhaltig verändert. Niemand hätte für möglich gehalten, dass ausgerechnet ein monolithisches Phänomen wie der Skirennsport zu einem Seismografen dafür werden könnte, was gesellschaftlich tolerabel ist und was nicht.
Das erste Buch der ehemaligen Skirennläuferin Nicola Werdenigg, „Ski, Macht, Spiele“, ist keine historisch-wissenschaftliche Aufarbeitung des Skirennsports und seiner inneren Mechanismen und öffentlichen Rezeption. Es handelt sich um eine persönliche, präzise und zurückhaltend formulierte Erzählung von Sehnsucht, Abhängigkeit, Emanzipation und dem gelungenen Versuch, mit dem geliebten Skilauf und der eigenen Rolle darin ins Reine zu kommen.
Werdenigg wuchs in der Ski(renn)familie Spieß im Zillertal auf, dort, wo die Berge besonders steil sind, das Tal besonders eng und der alpine Ehrgeiz besonders groß ist. Mit 15 Jahren schaffte sie es in den Nationalkader, im Jahr darauf wurde sie Vierte beim Abfahrtslauf bei den Olympischen Winterspielen in Innsbruck. Der Spitzensport, schreibt sie, sei eine Parallele zu „totalen, abgeschirmten Institutionen“ wie in „Kinder- und Altersheimen, Klöstern, Gefängnissen oder bei der Besatzung von Schiffen“.
Die gängige Sportpropaganda beschreibt ihn freilich als Medium der Befreiung, Selbstfindung und Selbstdisziplinierung. Wie wurde der „Held des Wiederaufbaus“, Toni Sailer, von Politikern, Fans und Medien bejubelt. Als bekannt wurde, dass er 1974 in Zakopane eine Prostituierte vergewaltigt und verletzt haben soll und von der Regierung Bruno Kreiskys gerettet wurde, haben Politiker und Skistars die beteiligten Journalisten als Landesverräter diffamiert. Werdenigg zeichnet nun ein differenziertes Bild Sailers, der unter dem Druck der Popularität offenbar litt, keinen Ausweg fand und um die Chance gebracht wurde, die Vorfälle von Zakopane aufzuarbeiten.
Der Augenblick einer Revision überkommener Klischees, die den Sport in den Dienst der Nation und der Wirtschaft gezwungen haben, ist da. Werdenigg trägt mit ihrem Verein #WeTogether zur Aufklärung bei, sie bietet gemeinsam mit der Psychologin Chris Karl Missbrauchsopfern Diskretion, Beratung und Kontakte zu kompetenten Hilfsorganisationen wie dem Weißen Ring. Ihre aktuelle Arbeit am Sport mag vorderhand von offizieller Stelle unbedankt bleiben, doch es ist die große Chance, die Macht des Spiels und des Sports den Menschen zurückzugeben.


