

Viele laute Stimmen für die Inklusion
Andreas Kremla in FALTER 42/2023 vom 20.10.2023 (S. 42)
Weil das Ding ist, dass wir Menschen mit Downsyndrom auch ein gutes Leben haben. Genau deswegen muss man sich keine großen Sorgen um uns machen, denn wir wollen auch nichts anderes, außer zu leben. Und deswegen muss man keine Abtreibungen machen.“ Wer hat gesagt, Menschen mit atypischen kognitiven Fähigkeiten könnten ihre Anliegen nicht präzise zum Ausdruck bringen?
Natalie Dedreux berührt mit ihrer Klarheit. Sie ist eine von 16 Autor*innen, die hier ihre Stimme erheben, um ihre Sicht der Welt deutlich zu machen – laut, wie die Herausgeberinnen Alina Buschmann und Luisa L’Audace betonen: „Leise beginnen wir keine Revolution, leise gewinnen wir keinen Protest.“ Menschen mit Behinderung, die mehr wollen als die Rolle der dankbaren Almosen-Empfänger*innen, würden oft als verbittert abgetan und als „Angry Cripples“ bezeichnet. Diesen Begriff besetzen sie nun und verwenden ihn als Buchtitel.
Abgesehen von den bekannten – aber oft ausgeblendeten – Barrieren zeigen die Autor*innen auch Aspekte, an die man nicht so leicht denkt. Die Bloggerin Chris Lily Kiermeier etwa berichtet von schockierenden Vorurteilen: „Menschen mit Behinderung sind alle asexuell!“ sei eine immer wieder geäußerte Annahme, die sie aus ihrer Arbeit in der Münchner Trans*Inter*Beratungsstelle kenne; wie auch die haarsträubende Meinung, dass Sex Menschen mit Behinderung traurig mache. Positiv überrascht Nadine Roksteins Schilderung, wie der für Blinde unentbehrliche Langstock zum individuellen Stilmittel werden kann – mit grünem Griff und buntem Muster.
Sich für Inklusion und gegen Diskriminierung einzusetzen ist schon lange die Aufgabe der Herausgeberinnen: Alina Buschmann arbeitet unter dem Namen Dramapproved für die Rechte von behinderten Menschen. Die queere Aktivistin Luisa L’Audace leistet, selbst im Rollstuhl sitzend, Aufklärungsarbeit als Beraterin, auf Social Media und auch durch ihr erstes Buch „Behindert und stolz“ (Eden Books 2022).
Eines ihrer Verdienste war es auch, „Ableismus“ als Begriff für strukturelle Diskriminierung von behinderten Menschen in der deutschen Sprache zu etablieren. Kein Wunder also, dass er auch hier gut veranschaulicht wird. Dass der vielfach verwendete Begriff „Intersektionalität“ die mehrfache Diskriminierung als Zugehörige*r mehrerer Minderheiten bezeichnet, darf man sich dann aber selbst zusammenreimen.
Was hier gut gelingt, ist, die Vielfalt der Themen abzubilden. Heterogen ist allerdings auch die Qualität der Texte. Sie reicht von hochpräzise dargestellten Gedanken, die berühren und dazu anregen, sich selbst zu hinterfragen, bis zu sehr persönlichen Perspektiven im Schulaufsatz-Stil.
Sollten Sie sich als Leser*in nun fragen, ob man Texte von Menschen mit Behinderung überhaupt solchermaßen beurteilen darf: Das habe ich als Rezensent auch lange überlegt. Meine Gegenfrage: Bedeutet Inklusion nicht auch, dass wir das Auftreten und die Werke von Menschen mit Behinderung genauso bewerten wie jene von Menschen ohne Behinderung – außer natürlich in jenen Bereichen, wo die spezifische Behinderung einen Unterschied macht? Würde nicht genau das wegführen von dem auch im Buch mit Grauen erwähnten „Dafür, dass du behindert bist…“? Oder wie Chris Lily Kiermeier es sagt: „Auch, wenn es hart klingt, bin ich felsenfest davon überzeugt, dass Menschen mit Behinderung ein Recht auf Scheitern, Frustration und auf das Erkunden der eigenen Grenzen haben.“
Ein Recht haben die hier versammelten Autor*innen stellvertretend für jene circa zehn Prozent der Menschen, die mit einer Behinderung leben, gut vertreten: das Recht darauf, dass sie gehört und ihre Themen gesehen werden. Dieses Buch zeigt zahlreiche Eingänge zu eigenen Welten in unserer Welt, die wir nicht sehen – sei es, weil wir daran vorbeischauen oder sie nicht wahrhaben wollen. Ein Augenöffner!