

Warum Tulpe Valentin sterben muss
Tabea Soergel in FALTER 41/2011 vom 14.10.2011 (S. 11)
Roman Marchel will in seinem Debütroman "Kickboxen mit Lu" Banales in etwas Größeres verwandeln
In einer Pension läuft einer 16-Jährigen eine alte, längst verstummte Schriftstellerin in die Arme. Seit Jahren lebt sie völlig zurückgezogen, doch Lu, der Teenager, braucht keine Minute, um sie handzahm zu machen. Nicht zuletzt deshalb, weil die Schriftstellerin einen Stoff wittert. Jeden Morgen treffen sich die beiden im Garten der Pension. Das Mädchen plaudert drauflos, die Alte hört zu.
Roman Marchels Roman besteht zu etwa 85 Prozent aus ihrem Buch, dem allerletzten, das sie schreiben wird: dem Buch Lu, aus Lus Perspektive, über Lus Themen, in Lus Sprache. Aus den verbleibenden 15 Prozent erfährt man, wie die Alte in der Einsamkeit ihres nächtlichen Zimmers
die Gesprächsprotokolle in den Rechner hackt, surrealen Besuch vom Pensionsbesitzer empfängt – und mehr und mehr aus ihrem kompromisslosen Vorleben mit drei Scheidungen und ungezählten Liebesaffären.
Ihren kurz bevorstehenden Tod projiziert
sie, Schriftstellerin müsste man sein, für sich und für Lu auf einen erfundenen, siechen Zimmernachbarn. Lu kommt natürlich dahinter. So ist das mit den Tabus:
Auch ihre eigene Weigerung, von Gott und Sex und Träumen zu sprechen, fällt in Windeseile ihrem Mitteilungsdrang zum Opfer.
Die ersten 70, 80 Seiten hat man große Sympathien für das Buch. Es ist auf liebenswürdige Weise harmlos und versetzt einen in die Jugend zurück, in der man noch ohne Bedenken Geschichten gelesen hätte, deren Hauptfiguren Namen wie Luziana und Tulpe Valentin tragen. Zudem handelt es sich um den ersten Roman eines jungen Autors. Allerdings hat man noch 150, 160 Seiten vor sich, und Lus munteres Gequassel gewinnt nicht merklich an Tiefe oder Tempo.
Hier drängen sich die ersten Fragen auf: Was rechtfertigt den Platz dieses für sein
Alter ziemlich biederen und blassen Mädchens im Zentrum der Aufmerksamkeit? Soll man wirklich glauben, dass Tulpe
Valentin mit Büchern über fliegende
Hunde und feuerspeiende Drachen sensationelle Erfolge gefeiert hat? Mit diesem
Namen? Und wie alt soll sie überhaupt sein?
Biografische Details legen nahe, sie müsse etwa zwischen 50 und 60 sein, allerdings beschäftigt sie eine Pflegerin und muss bald sterben, denn erstens ist sie
Alkoholikerin, und zweitens bietet das
einen willkommenen Kontrast zum erblühenden, Räder schlagenden Leben im Pensionsgarten, durch den neben Lu
zwei Pfauenweibchen tollen.
Hauptursache all dieser und vieler
weiterer Fragen ist die unglaubwürdige Anlage der Figuren. Lu nimmt man den vorlauten Teenager genauso wenig ab
wie Frau Valentin die resignierte Großschriftstellerin. Da kann Lu so viel sie will von Lehrern und aktuellem Popcorn-Kino plappern, da kann sich die alte Tulpe noch so tapfer unter Lus Dauerberieselung aus dem klammen, dunklen Grund ihrer Schreib- und Lebenskrise befreien und dem letzten Licht entgegenrecken.
Irgendwann stellt man sich die alles zersägende Frage: Warum muss Roman Marchel unbedingt aus den Blickwinkeln eines jungen Mädchens sowie einer sterbenden Frau schreiben? Zwangsläufig erinnert man sich an Elizabeth Costello, die grandios misanthrope, anrührende, tragische Schriftstellerin aus J.M. Coetzees gleichnamigem Roman. Diese Reminiszenz tut "Kickboxen mit Lu" nicht gut. Umso deutlicher wird es, dass der Autor an seinem eigenen Vorhaben gescheitert ist: mithilfe der Literatur Banales in etwas Größeres zu verwandeln.
Vielleicht ist schon das Grundkonzept falsch, vielleicht sollte man vor allem versuchen, das Banale zu Literatur zu verdichten. Und dann beten. Denn das Große lässt sich sowieso nieder, wo es will. So wird der Leser mit einer wüsten Mischung aus Trivialitäten, Redundanzen und mitunter unfreiwillig komischen Poesieeinsprengseln konfrontiert. Und sehnt sich schließlich nach den Büchern seiner Jugend zurück, in denen die Figuren nicht Tulpe Valentin hießen und trotzdem blühten.