

Schlachthof 223
Sebastian Fasthuber in FALTER 18/2012 vom 04.05.2012 (S. 33)
Manfred Wieninger rollt das SS-Massaker an ungarischen Juden nahe Persenbeug 1945 als Dokufiction auf
Die von dem Opel angeführte Marschkolonne hat knapp eine Stunde gebraucht für den Anstieg zu dem kleinen, langgestreckten Holzhäuschen, das isoliert und dunkel liegt. Keine 30 Meter davon entfernt befindet sich ein tiefer Graben, dessen Böschungen ziemlich steil sind. Von der Basis dieses Einschnittes in das Gelände werden die 65 jüdischen Männer mit herrischem Schreien und Fluchen, mit Fußtritten und Kolbenhieben in den Graben hineingetrieben. (
) Alles in allem ein perfekt gewählter Ort für ein Massaker, und auch die zehn im Abschlachten von Menschen höchst erfahrenen SS-Männer beherrschen die Choreografie des Massenmordes perfekt. Sie arbeiten so routiniert wie Fleischhauer in einem Schlachthof (
)."
In der Nacht vom 2. auf den 3. Mai 1945, in den Wirren der letzten Kriegstage, verübte ein SS-Rollkommando in der an Persenbeug angrenzenden Gemeinde Hofamt Priel ein Massaker an ungarisch-jüdischen Zwangsarbeitern, welche einige Tage zuvor in Persenbeug gestrandet waren. Unter dem Vorwand, die praktisch nur mehr aus Haut und Knochen bestehenden Männer und Frauen am nächsten Tag als Arbeitskräfte einsetzen zu wollen, holten die SS-Männer sie nachts aus ihrem Auffanglager.
Anstatt sie jedoch zu registrieren, trieben sie die Gruppe an eine abgelegene Stelle, an der zuerst die Männer und dann die Frauen in einen Graben getrieben und erschossen wurden. Die Leichenberge wurden mit Benzin übergossen und angezündet. Tatsächlich war die für das Massaker ausgewählte Stelle so abgelegen, dass die SS-Leute ortskundige Kollaborateure aus der Gegend gehabt haben müssen.
Hitler war schon tot, die Zweite Repub-
lik in Wien bereits ausgerufen worden. Doch noch waren die Russen nicht in Niederösterreich angelangt, sie sollten erst einige Tage später in Persenbeug an der Donau einmarschieren. Die unklare Situation in diesem Moment – manch einer glaubte sogar noch an den Endsieg – gab einer Gruppe fanatischer Nazis die Gelegenheit, ihrem Judenhass noch einmal freien Lauf zu lassen. Kaum jemand überlebte. Die Alten und die Kinder wurden einfach in ihren Betten erschossen.
Wer genau an dem Massaker beteiligt war, dem 223 zum Opfer fielen, wurde nie geklärt. Der St. Pöltener Autor Manfred Wieninger rollt dieses späte Kriegsverbrechen, das man auch schon als ersten spektakulären Kriminalfall der Zweiten Republik begreifen kann, nun in seinem Buch "223 oder Das Faustpfand" noch einmal auf. Wieninger, der sich als Autor böse-witziger Kriminalromane um den Ermittler Marek Miert einen Namen gemacht hat, treibt die Geschichte seiner Heimatstadt in der NS-Zeit schon seit geraumer Zeit um.
Gemeinsam mit der Historikerin Eleonore Lappin und Susanne Uslu-Pauer von der Israelitischen Kultusgemeinde hat Wieninger eine wissenschaftliche Aufarbeitung über "Ungarisch-jüdische Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter in Niederösterreich 1944/45" verfasst.
Wieningers germanistische Diplomarbeit über "St. Pöltener Straßennamen" wuchs sich zu einem über 900 Seiten starken Lexikon aus und ist ein sprachwissenschaftliches Werk, das auch eine gesellschaftliche und politische Dimension aufweist. Schließlich geben gerade Straßennamen sehr genau Auskunft, woher der Wind politisch gerade weht.
Auch in Wieningers Krimis, die – wie "Rostige Flügel" oder "Prinzessin Rauschkind" – neben denjenigen von Wolf Haas und Manfred Rebhandl zum Besten gehören, was hierzulande auf diesem Sektor zu haben ist, wirft die Vergangenheit dunkle Schatten auf die Gegenwart, bleibt einem das Lachen immer wieder im Hals stecken.
Der penibel recherchierende Historiker und der Krimischriftsteller werden nun in "223" fusioniert. Das Buch ist eine Mischung aus Bericht und fiktiv-spekulativen Elementen. Viel Verbürgtes wird nacherzählt, oft aber muss sich der Autor aufgrund der lückenhaften Dokumentenlage auch auf seine Fantasie verlassen und kann nur mutmaßen, wie es wirklich gewesen sein mag. Glücklicherweise ist ihm dabei nichts aus dem Ruder gelaufen: Bericht und Fiktion konkurrieren nicht miteinander, sondern ergänzen einander.
Als Schaltstelle des Buches und quasi als Stellvertreter des Autors fungiert der Revierinspektor Franz Winkler, ein Mann in seinen 50ern, der lieber bei seiner Familie wäre und seine Ruhe hätte, aber nach Persenbeug berufen wurde. Winkler ist kein Held, aber immerhin ein pflichtbewusster Beamter, der sich dafür einsetzt, dass die auf dem Todesmarsch von Wien nach Mauthausen in Persenbeug gestrandeten Juden ein Quartier bekommen. Und er lässt danach nichts unversucht, um das Massaker – gegen so manchen Widerstand aus der Bevölkerung – ordentlich aufzuarbeiten, die paar Überlebenden so gut wie möglich zu schützen.
Zeitweise fühlt man sich bei der Lektüre an Andreas Grubers Film "Hasenjagd" erinnert, der die Jagd auf Juden im Mühlviertel im Jänner 1945 zum Thema hatte und dessen Untertitel auch für "223" zutreffend ist: "Vor lauter Feigheit gibt es kein Erbarmen."
Natürlich gab es Augen- und Ohrenzeugen des Massakers, hatten einige Bauern Schüsse gehört und sich im Dunkeln aus ihren Höfen geschlichen, um zu sehen, was sich in dieser Nacht abspielte. Reden aber wollte zunächst niemand, schließlich waren auch Einheimische an der Tat beteiligt. Inspektor Winkler aber hatte einen Trumpf in der Hand: Weil der Einmarsch der Russen nur noch eine Frage der Zeit war, erzählten ihm die Zeugen dann doch etwas – ein bisschen was zumindest, um nicht selbst unter Verdacht zu geraten.
Zu den erschütterndsten Stellen des Buches zählen auch die letzten Seiten, in denen Wieninger gerafft nacherzählt, was sich in dem Fall seit Mai 1945 getan hat: wenig bis nichts. Ein paar Spuren werden verwischt, ein paar Akten sind nicht mehr auffindbar.
Im August 1948 werden die gerichtlichen Ermittlungen gegen die unbekannten Täter eingestellt. 1963 nimmt der inzwischen pensionierte Franz Winkler einen neuen Anlauf und erstattet Anzeige gegen Adolf Eichmann und Mitglieder von dessen Stab. Das Verfahren wird im selben Jahr wieder eingestellt.
Manfred Wieninger erzählt einen ungelösten Fall nach. Er ist dabei angesichts der besonderen Grausamkeit und Kaltblütigkeit des Verbrechens nicht der Versuchung erlegen, einen Kriminalroman mit historischem Setting daraus zu machen, wie es derzeit in Mode ist. Der Autor weiß zwar auch nicht, wer die Täter waren, aber es gelingt ihm, an die Opfer zu erinnern und ihnen Namen und eine Stimme zu geben. Man würde sich wünschen, dass dieses fast gänzlich pathosfreie Buch bald als Schullektüre zum Einsatz gelangt.
Buchpräsentation am 6.5., 16 Uhr, im Jüdischen Museum, 1., Judenplatz 8