Blickrichtungen

256 Seiten, Hardcover
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ISBN 9783701716166
Sprache Schweizerdeutsch
Erscheinungsdatum 01.08.2013
Genre Belletristik/Erzählende Literatur
Verlag Residenz
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Residenz Verlag GmbH
Mühlstraße 7 | AT-5023 Salzburg
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Kurzbeschreibung des Verlags

Jenseits des Horizonts.Ein Dichter begibt sich auf Reisen. Er lässt sich von uns durch unterschiedliche Natur- und Kulturlandschaften begleiten, denen sich die Sprache in wechselnden Formen anschmiegt. Die Genauigkeit seines Blicks und seine Sicht lassen uns an seinen Augenabenteuern und Horizonterweiterungen teilhaben. Wir wohnen mit ihm der Heimholung der Zarenfamilie nach St. Petersburg bei, durchwandern mit ihm einen japanischen Wald, Neumoskau, das Revolutionsmuseum von Hanoi und bewundern mit ihm die Windtürme der iranischen Stadt Yazd. Das alles sind poetisch verdichtete Augenblicke, durch Sinneswahrnehmungen, aber auch Sinnestäuschungen dem jeweiligen Alltag enthoben.

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FALTER-Rezension

Das Gehen und das Von- uns-Gehen

Gabriel Proedl in FALTER 35/2020 vom 28.08.2020 (S. 38)

Julian Schutting sagt, er habe Ordnung gemacht. Er habe seine Bettdecke über das Geländer des französischen Balkons geschlagen und das Fenster geöffnet, seine Wollpullover im Einbaukasten verstaut und die Manuskripte auf dem Parkettboden der winzigen Altbauwohnung sortiert – Stapel für Stapel, mit Steinen beschwert, damit der Wind sie nicht davonweht. „Als würden Sie gleich bei mir eintreten“, sagt er mir. Ich rufe nur an. Den Schriftsteller treffen kann ich erst nach der „Pestzeit“, wie er die Corona-Pandemie nennt. Auch wegen ihr denkt er jetzt mehr an „die letzten Fragen im Leben“, sagt er: Wie verlässt man diese Welt? Oder wie entfernt man sich aus ihr? Mit 82 denke man darüber nach. Wenn ihn die Kraft verlässt, will er mit Schlafmittel nachhelfen. All das erzählt er mir, noch bevor ich richtig fragen kann, wie es ihm geht.

Julian Schutting ist ein Feingeist. Er hat über 50 Bücher bei österreichischen Verlagen veröffentlicht, Lyrik und Prosa. Ein genauer Beobachter mit Blick für das Poetische – eine leise, aber wichtige Stimme.

Seine Wohnung habe er nicht nur mir zuliebe aufgeräumt. Obwohl er nie Gäste empfängt – dafür ist die Wohnung zu beengt –, räumt er sie immer auf, bevor er das Haus verlässt, um spazieren zu gehen. Das hat er sich in seiner Jugend vor dem Autostoppen angewöhnt: „Wenn ich einen tödlichen Unfall habe, will ich nicht, dass meine Familie in ein unaufgeräumtes Zimmer treten muss“, sagt er. Und auch jetzt, von seinen langen Spaziergängen, kommt er vielleicht nicht mehr zurück. Schließlich wünscht er es sich so sehr: einen Tod im Gehen. Einfach umfallen, bei der schönsten aller ­Tätigkeiten, dem Umhergehen, der wichtigsten Nebensache seines Lebens.

Das Spazieren nehme bei ihm pathologische Züge an, sagt er. Das Verlassen seiner gewohnten 23 Quadratmeter, auch jetzt in der Corona-Zeit, es muss einfach sein, auch wenn alle abraten – wegen der Gefahr, sich anzustecken. Für Schutting ist das Umhergehen zur Sucht geworden, er kann nicht mehr ohne: „Ich würde es auch tun, wenn es so schlecht für mich wäre wie die vielen Zigaretten, die ich täglich beim Schreiben verrauche.“

Vor unserem Telefonat an diesem Donnerstagmorgen sei er bereits 59 Minuten gegangen. Auf seine gewohnten drei Stunden fehlen ihm zwei Stunden und eine Minute. Schutting nimmt das genau, er hat einen Schrittzähler, der auch die Zeit misst. Unter drei Stunden zu sein macht ihn unruhig. Gleich nach dem Gespräch will er wieder raus, seine Wanderschuhe stehen noch neben dem Schreibtisch, damit er gleich wieder reinschlüpfen kann. Es sind noch Steinchen in den Rillen der Schuhe, er müsse aufpassen, den Parkettboden nicht zu zerkratzen.

Schutting hat drei Lieblingsrouten, heute hat er sich für die Altstadttour entschieden: vom Saarplatz über die Heiligenstädter Straße zum Döblinger Steg, auf dem Treppelweg den Donaukanal abwärts, zum Schwedenplatz, den Wienfluss aufwärts zum Naschmarkt, dann zurück mit der U-Bahn. Der öffentliche Verkehr, Menschen, die sich auf engem Raum tummeln: ganz anders als sein aufgeräumtes Spaziergängerleben.

Auf der Straße sammelt er Beobachtungen für seine Arbeit am Schreibtisch. Er könne sich Bilder sehr gut merken, sagt er, er sei ein Augenmensch. Ein Notizbuch habe er nie dabei. Wenn er etwas niederschreiben muss, geht er in die nächste Bank und bittet um Erlagscheine oder in ein Gasthaus für Servietten.

Viele Texte entstehen schon beim Gehen, wenn er etwas Behäbiges schreibt, geht er langsamer, als wenn es etwas ist, was Tempo braucht. Zuhause schreibt er.



Wäre, sooft ich mit nur einem Euro in der Hosentasche losziehe, am besten, ohne etwas gefrühstückt zu haben, das Lebensgefühl der Landstreicher, sagen wir: der Biedermeierzeit, zu erahnen? (...) Das Selbstgefühl eines, der sich überall durchzuschlagen versteht. (Aus: „Auf der Wanderschaft“)



Eine Sprache zu finden, die sich von anderen deutlich unterscheidet, ist zu seiner Lebensaufgabe geworden. Erst dann sei man ein echter Dichter. Doch Schutting ist keiner, der im Schreiben einen Selbstzweck sieht, nein, er will auch gelesen werden. „Ich mache es mir deshalb möglichst schwer, den Lesern aber möglichst einfach“, sagt er. Er ringe sich Strichpunkte ab und gönne dem Leser Verschnaufpausen in der flotten Erzählung.

„Haben Sie so ein Internet?“, fragt er mich. Ja, so eines habe ich. Er empfiehlt mir eine Videolesung: Schutting sitzt vor einer kahlen Wand und liest aus seinen Wortschatzübungen. Er sieht aus, wie ich ihn von Fotos ­kenne, ein dicker Strickpullover über ein weißes Hemd gezogen, ein kantiges Gesicht und ein Oberlippenbart.

Schutting liest im Video aus seinem Text „Geschlossen“ vor. Eine Sammlung aus Wiener Türschildern, die auf unterschiedliche Weise über den Ladenschluss wegen Corona informieren. „Bleibt vorerst geschlossen. Verordnungsgemäß bis zur Wiedereröffnung geschlossen. Aufgrund höherer Gewalt bleiben die Rollbalken heruntergelassen.“ Eine Sammlung, entstanden beim Umhergehen.

Er endet mit einer Frohbotschaft am Fensterglas des Eissalons: „Wir machen Winterpause und freuen uns auf ein Wiedersehen Anfang März.“ All das habe er wirklich beobachtet. Etwas zu erfinden käme ihm komisch und altmodisch vor, es ist wie Gott spielen, und das will er nicht. Außerdem habe er keine Fantasie. „Die Zeit des Romans ist mit Musil und Kafka zu Ende gegangen!“ Wenn Schutting Gratiszeitungen liest – jeden Tag, zur Inspiration –, kann eine kleine, reißerisches Meldung eine ganze Geschichte in ihm lostreten. Diese sammelt er und will sie veröffentlichen, „Datierte Blätter“, ein Werk mit allem, was der Tag ihm zuträgt. Was er in der Natur sieht und in der bildenden Kunst. Er ist schon bei Seite 400, ohne auch nur ein einziges Mal über sich geschrieben zu haben. „Ich interessiere mich selbst schon nicht für mich, warum sollen es andere tun“, sagt er. Er sei im Alter ein noch besserer Beobachter geworden. Er sehe klarer und schreibe präziser, „besser als je zuvor“.

Beobachten, nachfragen, wahrheitsgetreu aufschreiben.

„Blickrichtungen“, 2013 im Residenz-Verlag erschienen, ist eine Sammlung an verdichteten Reisemomenten. Kondensierte Erzählungen ohne Zwischenhandlung. Ein Dichterstreifzug durch Japan, den Iran, St. Petersburg. Eine Spiegelung am glatten Wasser der Kanäle von Venedig wird zum Thema ausufernder Sätze.



Daß in der Stadt der Spiegelungen so manch eines für sich allein zu wenig wäre, auf ein ihm Vergleichbares anderes angewiesen? weshalb sich dem unter freiem Himmel wässerig haltlosen Venedig-Spiegelungen ein unerläßliches Oben und Unten hinzugestellt in zwei Gebäuden, als erstes in der Kirche San Salvador. (Aus der Furche)



Kondensierte Momente, pointierte Banalitäten. Schutting erlebt die Reise erst richtig, wenn er sie aufschreibt, sagt er: „Ob die Ausfahrt schön war, merke ich, wenn ich darüber zumindest zwei Seiten zustande gebracht habe.“ Den Umschlag von „Blickrichtungen“ hat sein Neffe Albin gestaltet. Er ist bildender Künstler in Innsbruck. Verwandtschaft hat Schutting in Amstetten und Steyr – die haben auch gleich, erzählt er, das Geld für seinen Vorlass bekommen, den das Land Niederösterreich gekauft hat. 100.000 Euro, damit wollte Schutting nichts zu tun haben. „Etwas zu besitzen, das würde mich belasten.“

Materielles ist ihm nichts wert, das sei auch an seinem Zimmerchen zu erkennen: Der kleine Raum habe kahle Wände, Bilder aufzuhängen käme ihm blöd vor. Es gibt nur Zweckgegenstände, noch nie hatte er Blumen stehen, nicht einmal, wenn er sie geschenkt bekam. Sein Bett wird bei Tag ein ­Divan, oft schreibt er dort, mit angewinkelten Beinen, auf dem Schoß ein Reißbrett. Wenn er zufrieden ist, tippt er das Manuskript mit einer elektrischen Schreibmaschine ab, die auf ­einem Klapppult steht, so klein, dass der handgeschriebene Zettel nur dank eines Briefbeschwerers hält und an der Pultkante schlaff herunterhängt. Hier, in diesem Raum, lebt er seit 52 Jahren.

Diese beengte Situation, die Schutting Schreibklause oder Mönchszelle nennt, ist ein Grund für sein Streben ins Freie – damit sie nicht zur Gefängniszelle wird. Wenn er sich nicht für die Altstadt-Route entscheidet, geht er auf den Kahlenberg, über die Sulzwiese auf den Hermannskogel. Oft geht er diese Route mit einer Frau an seiner Seite, seine Liebe, wie er sie nennt. Doch die will ihn nicht mehr treffen, weil sie ihren Julian für unvorsichtig hält. Dieser wirft sich trotz der Pandemie noch ins Menschengewühl des Bauernmarktes. Jetzt geht er alleine, im Laufschritt macht er seine Tour.



Wann es mir zur Gewohnheit geworden, überall dort, wo es steil bergauf geht, die Schritte mitzuzählen, ob ich will oder nicht, trotz Schrittzähler am Hosenbund? nicht eine Unsitte, sondern ein Automatismus – mit den ersten Schritten bergauf setzt dieses Zählen ein auf eine Art, die scheinbar die Wegstrecke verkürzt, als würde ich mir als einem schon müden Kind gut zureden, daß es brav weitergeht.



Wie in einem Wahn gehe er, so schnell, dass ihm häufig übel werde. Doch er mache dann einfach weiter, er überholt junge Menschen, auch bergauf, schnauft und denkt, so erzählt er es mir: „Wenn mich jetzt der Tod ­überrascht, das wäre das Schönste.“ Beim Sterben will er alleine sein, es sei der intimste Moment des Lebens. Sein ganzes Leben habe er geteilt, indem er darüber geschrieben hat – der letzte Moment soll nur ihm gehören.

Nach drei Stunden, die Rückkehr an seinen Ausgangspunkt, seine kleine Wohnung. Jedes Mal ist er froh, nicht tot umgefallen zu sein – er will doch noch so viel erzählen, so viel ­schreiben! Bitte, lieber Herrgott, denkt er sich dann, sagt er, lass mich irgendwann im Gehen sterben. Nicht heute, nicht morgen und nicht übermorgen. Aber irgendwann. Und wenn ihn die Kräfte verlassen, dann will er nachhelfen. Im kalten, schneereichen Winter, eine halbe Flasche Rotwein und eine Packung Schlafmittel, eine geheime Route in den Wienerwald und dann gehen, bis er an einem Seitenstraßerl zusammenbricht. Am nächsten Tag wird ihn ein Arbeiter beim Salzstreuen finden. „Dann ruht die Zeit: steht still über die Zeit hinaus.“ Ich spüre Schuttings Ungeduld, er will wieder hinaus. Noch während ich ihm alles Gute wünsche, legt er auf.

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