

Ein Vogerl im Völkerkäfig
Florian Baranyi in FALTER 11/2016 vom 18.03.2016 (S. 20)
Mit ihrem historischen Galizien-Roman „Der Papierjunge“ hat Sofia Andruchowytsch ein kleines Meisterwerk vorgelegt
In der „Phänomenologie des Geistes“ hat Hegel seine berühmte Dialektik des Herr-Knecht-Verhältnisses entwickelt, deren bitterer Witz darin besteht, dass beide in ihrem Selbstbewusstsein aufeinander angewiesen sind. Die junge Ukrainerin Sofia Andruchowytsch nimmt diesen Gedanken in ihrem Debütroman „Der Papierjunge“ auf und verwandelt ihn in ein literarisches Ereignis.
Andruchowytsch erzählt mit einer entschleunigten Gelassenheit, die ihresgleichen sucht. Im Galizien des Jahres 1900 berichtet Stefanija Tschornenko von ihrer seltsamen Beziehung zu Adelja, einer deutschstämmigen höheren Tochter, und deren Mann Petro, einem Bildhauer mit ungewöhnlich großem Talent und ebensolchem Selbstbewusstsein.
Der Grund für die unscharfen Konturen des Verhältnisses zwischen der oberflächlichen Hausherrin und dem gebildeten Dienstmädchen ist die gemeinsame Vergangenheit. Nach dem Tod von Adeljas Mutter und Stefas Eltern wuchsen beide Mädchen unter der Obhut von Adeljas Vater, dem Mediziner Dr. Anger, auf.
Und obwohl Stefa Adeljas verschlissene Kleider tragen und ihr immer zu Diensten sein musste, fühlt sie sich ihr überlegen. Noch als beide längst erwachsen sind, changiert Stefas Verhalten gegenüber Adelja zwischen unverhohlener Aggression, mütterlicher Aufopferung, schwesterlicher Verschworenheit und dankbarer Dienstbarkeit. Auf den ersten 200 Seiten gibt Andruchowytsch ihrer Protagonistin reichlich Raum, um plastisch zu werden. Eine echte Handlung gibt es kaum, stattdessen wird die Initialkonstellation zwischen Stefa, Adelja und Petro um weitere Machtdreiecke erweitert – etwa jenem zwischen Adelja, Stefa und dem neuen Pfarrer Pater Josyf bzw. zwischen dem Pfarrer, Stefa und der Pfarrersfrau.
Schließlich taucht ein kleiner Bub namens Felix auf, der als Schlangenmensch im Zirkus aufgetreten ist und offenbar genug vom strengen Regime des charismatischen Magiers Thorn hat. Er wird schlafend in Petros Werkstatt gefunden und im ersten Moment für eine fleischgewordene Engelsstatue des Bildhauers gehalten. Die Register des Fantastischen und Magischen speist Andruchowitsch gekonnt ein, um sofort wieder zum realistischen Erzählen zurückzufinden. Mit ihrer technischen Reife tritt sie einer möglichen Lesart als exotischem Romanexport selbstsicher entgegen. Wir haben es hier mit keinem magischen Realismus ukrainischer Prägung zu tun.
Felix, der sich wie ein Blatt Papier in jede noch so kleine Nische zwängen kann, sorgt bald für gehörige Unordnung. Die unfruchtbare Hausherrin nimmt ihn als Kinderersatz an, verliert freilich bald das Interesse, worauf sich Stefa um ihn kümmert. Für den Roman erfüllt Felix aber noch eine andere Funktion. Der ukrainische Originaltitel „Felix Austria“ spielt zwar auch auf das Kind an, er eröffnet aber noch eine weitere Bedeutungsebene. Denn Felix wird bald zum Anlass für Stefa, um über ihr Leben und ihre untergeordnete gesellschaftliche Stellung nachzudenken.
Mit Hegel gesprochen ist ihr „Für-andere-Sein“ das beherrschende Thema ihrer Selbstbefragungen. Und „Der Papierjunge“ entwickelt sich zu einem Drama der Subjektwerdung. Das gilt sowohl für Stefa und Felix als auch für alle Volksgruppen, die sich im „Felix Austria“ an den Rand gedrängt sehen. Subtil wird in Vorausdeutungen auf das dräuende Ende der imperialen Ordnung angespielt.
„Der Papierjunge“ ist postkoloniale Literatur im besten Sinne. Andruchowytsch legt ein kleines Meisterwerk vor, dessen Pointe darin besteht, dass sich Stefa als potenziell unzuverlässige Erzählerin erweist. In einem Brief Dr. Angers lesen wir, sie habe sich „im Handumdrehen die Kunst zu eigen gemacht, alles so zu sehen, wie es ihr gerade passt“. Am Schluss verlässt der Vogel seinen Käfig, aber das Ende bleibt offen.
Literarisches Talent ist bei den Andruchowytschs übrigens Family Business. Sofias Vater Jurij gilt seit Jahren als Aushängeschild der ukrainischen Literatur und Ehemann Andrij Bondiar hat sich als Blogger, Übersetzer und Autor bereits einen Namen gemacht.
Am 7.6., 19 Uhr liest Sofia Andruchowytsch in der Österreichischen Gesellschaft für Literatur (1., Herrengasse 5) aus ihrem Roman