

San Vito, meine Stadt!
Klaus Nüchtern in FALTER 37/2023 vom 13.09.2023 (S. 31)
Das Fest zum 80. Geburtstag von Peter Henisch musste aufgrund einer Corona-Erkrankung des Autors leider verschoben werden, und der "Epidemia di merda" entkommt auch der Ich-Erzähler aus dessen circa 16. Roman nicht.
Dieser Paul Spielmann verbringt den Sommer 2021 -die US-Army zieht aus Kabul ab und die österreichische Fußballnationalmannschaft unterliegt Italien im Achtelfinale der EM knapp 1:2 - in einer toskanischen Kleinstadt namens San Vito. Unschwer lässt sich darin San Quirico d'Orcia erkennen, wo Henisch seit vielen Jahren einen Teil des Jahres verbringt. Auch eine Liedermacher-Karriere hat der Protagonist mit seinem Erfinder gemein, allerdings ist Paul um ein knappes Vierteljahrhundert jünger und im Hauptberuf frühpensionierter Lehrer (Musik und Mathe).
Die Wohnung, die er bezieht, hat "Paolo", wie ihn hier alle nennen, ein befreundetes Paar zur Verfügung gestellt, Marco und Julia. Letztere ist die ehemalige Therapeutin und noch immer Leider-nein-Geliebte des Italienurlaubers, der das San Vito, das ihm die beiden beschrieben haben, nicht vorfindet, weil es mittlerweile von Touristen überrannt wird, und zwar hauptsächlich italienischen. Zum detailfreudig ausgepinselten Lokalkolorit tragen neben den
von einem Freund und Assistenten Michelangelos gestalteten Gärten, auf die der Protagonist vom Balkon aus blickt, noch die Läden und Lokale San Vitos sowie ein alter Schildkröten-Macho bei, der aussieht wie Mussolini und alles rammelt, was ihm unter den Panzer kommt.
Eher schildkrötenhaft fällt auch das Erzähltempo aus, was durchaus seinen Reiz hat, denn "Nichts als Himmel" ist auch eine Phänomenologie des Ankommens, die eine gesteigerte Aufmerksamkeit für das zunächst Ungewohnte und Fremde hat. Die Osteria mit dem - wie sich noch herausstellen wird: bedeutungsschweren -Namen Il Refugio scheint aufs Erste nicht sonderlich einladend. Das Neonlicht ist kalt, die Männer reden zu laut und die Frauen "um mindestens eine Oktave zu hoch". So sind sie, die Italiener: eh lieb, aber halt auch immer sehr expressiv.
Aus der Zudringlichkeit, mit der die Heimischen und Zugereisten Paul begegnen, wird bald Freundschaft, im Falle einer aus Dortmund stammenden Bildhauerin und Sozialarbeiterin mit Faible für die Kultur der Etrusker sogar ein Gspusi. Diese Vera hat sich seinerzeit auch in der Flüchtlingshilfe engagiert. Im kalabrischen Riace, dessen Bürgermeister Domenico Lucano im September 2021 wegen Beihilfe zur illegalen Migration zu 13 Jahren Haft verurteilt wurde.
Dieser Umstand bietet dem Roman, dessen Figuren von seitenlangen Laberflashes heimgesucht werden, Anlass, im letzten Fünftel doch noch Fahrt aufzunehmen und einen zeitkritischen Plot zu entwickeln, der hier nicht verraten werden soll.
Henischs wahre Stärke aber ist tatsächlich seine Beobachtungsgabe und Beschreibungskunst, mit der er ganz alltägliche Wahrnehmungen, Vorkommnisse und Verrichtungen wie etwa Straßenreinigungsgeräusche oder "das Reiben der Ruderzapfen in den Dollen" unaufdringlich poetisch zu evozieren vermag. Und für die Awareness in Sachen Fink und Taube, Star und Dohle vergibt der Falter-Vogel-Wart selbstverständlich Zusatzpunkte.