

Motorschlitten-Action mit Odin und Gulveig
Martin Pesl in FALTER 12/2025 vom 21.03.2025 (S. 10)
Es ist keine Schande, noch nie von der Insel Kolbeinsey gehört zu haben. Durch einen Vulkanausbruch entstanden, liegt sie 105 Kilometer vor der Nordküste Islands – noch. Weil sie immer weiter erodiert, wird sie bald in den Wellen verschwinden. Zuletzt ragten noch 290 Quadratmeter über die Wasseroberfläche: kein einfacher literarischer Schauplatz.
Und so erreicht der Erzähler von Bergsveinn Birgissons neuem Roman das trostlose Eiland auch erst ganz am Ende seiner Geschichte. Die beginnt in Reykjavik, wo er an der Universität Literatur unterrichtet, geplagt von Zweifeln, was Dichtung für ihn und diese Zeit eigentlich noch bedeuten soll, und liiert mit einer Frau, gegenüber der er sich schuldig fühlt, weil er ihr das Leben so schwer macht.
Aber es gibt da einen Menschen, dem es noch schlechter geht, er nennt ihn immer nur „meinen depressiven Freund“. Der wurde von seiner Mutter aus Angst, er könnte sich das Leben nehmen, in die Psychiatrie gesteckt, wo er ihn nun regelmäßig besuchen will – aus echter Sorge, aber auch der willkommenen Gelegenheit wegen, sich für eine Zeit von der Universität zu verabschieden. Der Freund aber ist seelisch und körperlich am Ende, und das gut gemeinte Angebot des Erzählers erreicht ihn nicht mehr. Eine gefühlte Ewigkeit quälen sich die beiden gegenseitig mit schier endlosen Monologen, und je länger der Erzähler redet, desto stärker gerät auch sein eigenes, ohnehin labiles seelisches Gleichgewicht ins Wanken.
Bis die Krankenschwester den Raum betritt. Der Freund möge bitte gehen, seine Besuche seien für den Patienten eine schwere Belastung. Doch der Freund will nicht, erst recht, als sich die Schwester als Sadistin erweist, die ihre Macht über die Patienten auskostet. Vielleicht ist auch Begehren im Spiel? Die gemeinsame Feindin jedenfalls stiftet zwischen den beiden Freunden wieder eine Gemeinsamkeit, und in einer atemberaubenden Aktion gelingt es dem Erzähler, den Freund aus der Klinik zu entführen. Worauf sich die Krankenschwester an deren Fersen heftet.
An dieser Stelle wechselt der Roman unvermittelt seine Tonalität. Auf die Düsternis einer schweren Depression – verstärkt noch durch die Illustrationen von Kjartan Hallur – folgt nun eine haarsträubende Verfolgungsjagd quer über die Insel. Zu Fuß, mit Auto und Motorschlitten führt sie in immer einsamere Gegenden, umrahmt von dramatischen Kulissen – pure Action mit Karambolagen und einem Helden, der für Momente in einer Gletscherspalte verschwindet. Das letzte Stück Weges führt mit dem Boot über das Meer – zur Insel Kolbeinsey.
Man kann sich diese Szenen wunderbar im Kino vorstellen, der Saal würde toben – allerdings nur die Oberfläche der Romanhandlung präsentiert bekommen. Denn nun stülpen sich die seelischen Landschaften der beiden Männer nach außen, korrespondieren mit der einmaligen Natur Islands. Dort residieren auch die Helden der Saga-Dichtung, Balder, Gullveig, Odin und wie sie alle heißen. Übersetzerin Eleonore Gudmundsson erläutert in einem Anhang Anspielungen, die eine Leserschaft außerhalb Islands nicht verstehen kann.
Bergsveinn Birgisson ist ein ausgewiesener Mittelalterexperte, weswegen man in seinem Erzähler wohl ein Selbstporträt vermuten darf. Seinen Roman hat er in der Gegenwart angesiedelt, aber in der ältesten überlieferten isländischen Literatur verankert. Drei Hauptfiguren genügen ihm, aber die bespielen die Insel von Westen nach Osten und vom Süden bis in den äußersten Norden.
Man braucht eine Weile, bis man in diese Welt hineingefunden hat, aber dann erkennt man das kleine Wunder, das hier gelungen ist: den Raum und die Zeit, die Menschen und die Landschaft zu einem totalen Island-Roman zu verbinden – der anders auch in einer anderen Ecke dieser Welt spielen könnte.
Tobias Heyl