

Bertl und Klara auf dem Lande
Matthias Dusini in FALTER 42/2025 vom 15.10.2025 (S. 10)
Eine frisch verheiratete Frau sehnt sich nach einem Kind. Da sie auch nach mehreren Jahren noch nicht schwanger ist, sucht sie nach einer unkonventionellen Lösung. Das ist der dramatische Kern von Tanja Paars Roman „Am Semmering“, dem die Autorin auch biografisch verbunden ist, arbeitet sie darin doch die Geschichte ihrer Großeltern auf. Opa Bertl hackelte in den 1920er-Jahren für die Bundesbahnen am Bahnhof Semmering, seine Frau Klara führte den Haushalt.
Mit spürbarer Empathie vermittelt die Erzählerin die Eigenheiten der Protagonisten: des bekennenden Sozialisten und Motorradfans Bertl sowie der ebenfalls aus proletarischen Verhältnissen stammenden Klara, die von einem anderen Leben träumt, heimlich die Zeitungen der Kurgäste liest und Foxtrott liebt.
Dazu kommen noch ein sympathischer Hallodri von Pianist, der die Zeit der Wirtschaftskrise mit Schmäh bewältigt, und die schöne Rahel, die in einer Pension kocht und allmählich ihren orthodoxen jüdischen Glauben ablegt. Die vier freunden sich an. Beste Voraussetzungen also für eine mitreißende Love-Story mit Zeitkolorit.
Die Ambition der Autorin aber reicht weiter. Sie erzählt die Geschichte des Ortes, der in der Zwischenkriegszeit zu den mondänsten Tourismusdestinationen Europas gehörte; vom Glanz des Hotels Panhans und der Tänzerin Josephine Baker, deren freizügige Performance einen Skandal provozierte; von der Salonnière Alma Mahler-Werfel.
„Am Semmering“ liefert zeithistorischen Hintergrund. Es geht um antisemitische Ressentiments gegenüber reichen Gästen, um den Kampf zwischen Sozialdemokraten und NS-Aktivisten, den Holocaust. Sehr früh wird auch das Schicksal von Rahel verraten. Zu viel Information, zu wenig Dramaturgie: Der Geschichte von Bertl und Klara bleibt zu wenig Raum, um sich entfalten zu können. Den Leser beschleicht das Gefühl, in einem Zug mit zu schwacher Lokomotive auf die Passhöhe des Semmering hinaufzutuckern.
Reportagen schildern den Semmering oft als nostalgischen Schauplatz glanzvoller Vergangenheit. Paar bricht diese elitäre Perspektive, indem sie das Leben der kleinen Leute in den Vordergrund rückt, mischt aber leider zu viel Folklore in die Genreszenen. „Also rüber zur Negrelli, am Marterl sich vielleicht doch kurz bekreuzigen? Nutzt es nix, schadet’s nix.“ So reden Sommerfrischler, die sich auf dem Land in Einheimische verwandeln. Und „Am Semmering“ schwankt unentschlossen zwischen Welttheater und Dorfg’schichterl.