

Frauenpower in der Physik
André Behr in FALTER 41/2018 vom 10.10.2018 (S. 49)
Biografie: Vor 50 Jahren starb die bedeutendste österreichische Kernphysikerin
Die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert war eine der für die Menschheit folgenreichsten Phasen der Wissenschaftsgeschichte. Mit der Entdeckung der Radioaktivität durch Marie und Pierre Curie, der Quantenhypothese von Max Plank, den beiden Relativitätstheorien Albert Einsteins, Niels Bohrs Atommodell von 1913 sowie der Freilegung von Feinstrukturen der Materie wurden innert kurzer Zeit Türen aufgestoßen, von denen man kaum ahnen konnte, dass es sie gibt.
Aufgrund der gesellschaftlichen Verhältnisse waren die Protagonisten jener Zeit mehrheitlich Männer. Es gab aber auch Frauen, die sich trotz widriger Umstände behaupteten und wesentlich zum Erkenntnisgewinn beitrugen. Die berühmteste jener Zeit war die 1867 in Warschau geborene Marie Curie. Da sie in Polen nicht studieren durfte, zog sie nach Paris und schloss dort 1893 als Beste in Physik und ein Jahr danach als Zweitbeste in Mathematik ab. 1903 erhielt sie für ihre Beiträge zur Strahlungsforschung den Nobelpreis für Physik, 1911 denjenigen für Chemie.
Nicht minder kreativ war die elf Jahre jüngere Lise Meitner, Tochter des jüdischen Rechtsanwalts Philipp Meitner aus Mährisch-Weißkirchen. Der progressive Freigeist betrieb in der Wiener Leopoldstadt eine Kanzlei als Hof- und Gerichtsadvokat und zählte Bildung und Kultur zu den höchsten Gütern. Meitners Mutter hatte zwischen 1876 und 1891 acht Kinder zur Welt gebracht, zuerst ein Mädchen, dann immer abwechselnd Jungen und Mädchen. Die Dritte dieser Reihe war Lise.
Am 7. November 1878 geboren, interessierte sich Lise Meitner wie Marie Curie bereits als Mädchen für die Naturwissenschaften und Mathematik. Und weil auch ihr der gewünschte Bildungsweg verwehrt war, absolvierte sie ab Herbst 1889 die sogenannte „Bürgerschule“ am Czerninplatz, legte auf Wunsch des Vaters ein Lehrerdiplom für Französisch ab und erarbeitete sich dann die Matura im Selbststudium. Mehr als 50 Jahre später schrieb sie noch immer mit Wehmut: „Wenn man an meine Jugendzeit zurückdenkt, so stellt man mit einem gewissen Erstaunen fest, wie viele Probleme es damals im Leben bürgerlicher junger Mädchen gab, die heute fast unvorstellbar erscheinen.“
Dank ihrer Beharrlichkeit konnte Lise Meitner wie Curie alle Hindernisse überwinden. Mit 23 Jahren durfte sie sich im Herbst 1901 an der Universität Wien einschreiben, nur wenige Jahre nachdem Frauen in Österreich an Unis überhaupt zugelassen worden waren. Sie belegte die Fächer Physik, Mathematik und Philosophie und kam von 1902 bis 1905 in den Genuss von Ludwig Boltzmanns berühmten Vorlesungen.
Noch Jahre danach schwärmte sie von dessen Kampf für die Anerkennung der Realität von Atomen und schilderte ihn als „voll Herzensgüte und Glaube an Ideale und Ehrfurcht gegenüber den Wundern der Naturgesetzlichkeit“.
In ihrer Dissertation am Chemisch-Physikalischen Institut bewies Meitner, dass James Maxwells Formel für die Elektrizitätsleitung in inhomogenen Körpern ebenso für die Wärmeleitfähigkeit gilt. Das Rigorosum Ende 1905 bestand sie mit Auszeichnung, ganz sicher war sie sich über ihre Zukunft dennoch nicht. Erst als sie vom neuen Gebiet der Radioaktivität hörte, öffnete sich ihr der Weg, eine eigenständige Wissenschaftlerin zu werden.
Sie begann zu publizieren und bewarb sich in Gießen wie wohl auch in Paris bei Marie Curie. Die Absagen bestärkten sie, ihre Ausbildung bei Max Plank in Berlin fortzusetzen, was sie später als Glück bezeichnete. Den berühmten Professor hatte sie in Wien kennenglernt, als dieser Nachfolger von Boltzmann werden sollte, was er letztendlich ablehnte. 1907 reiste sie nach Berlin und wurde an der Friedrich-Wilhelms-Universität freundschaftlich aufgenommen.
In der Hauptstadt des Deutschen Reichs ernannte sie Planck eigenmächtig zu seiner Assistentin, was Frauen zu der Zeit in Preußen noch verwehrt war. Zudem traf sie auf den fast gleichaltrigen Chemiker Otto Hahn, der ebenfalls brennend am Phänomen der Radioaktivität interessiert war. Diese Jahre mit Hahn bezeichnete sie als die unbeschwertesten ihrer Karriere: „Die Radioaktivität und Atomphysik waren damals in einer unglaublich raschen Fortentwicklung; fast jeder Monat brachte ein wunderbares, überraschendes, neues Ergebnis. Wir waren jung, vergnügt und sorglos.“
Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 hatte die Idylle ein Ende, zumal Meitner aus einer jüdischen Familie stammte. Die Universität entzog ihr die Lehrbefugnis, und nach der Annexion Österreichs floh sie am 13. Juni 1938 mit nur zwei Handkoffern Gepäck über die Niederlande nach Stockholm, wo man sie am Nobel-Institut aufnahm.
Sie hatte dort kein Labor mehr, als Diskussionspartner jedoch ihren Neffen Otto Robert Frisch. Mit Hahn blieb sie per Briefverkehr in engem Kontakt. Die Ergebnisse der Teams in Schweden und Berlin zur Kernspaltung und den dabei freiwerdenden Energiemengen elektrisierten Naturwissenschaftler weltweit. Dennoch wurde der Nobelpreis 1945 Otto Hahn allein zugesprochen.
Die letzten acht Jahre ihres Lebens verbrachte Lise Meitner in Cambridge. Sie war nie an einer Biografie über sich selbst interessiert. Nun jährt sich am 27. Oktober ihr Todestag zum 50. Mal, was bereits einige Würdigungen zur Folge hatte. Auch David Rennert, Wissenschaftsredakteur beim Standard, und die Physikerin Tanja Traxler haben ihren Lebens- und Erkenntnisweg neu nachgezeichnet. Ihr Buch beschreibt Meitners Lebensweg als außergewöhnliche Frau erfreulich klar, einfühlsam und für Laien bestens verständlich.