

Die Technik ist ein Hund
Benedikt Narodoslawsky in FALTER 43/2022 vom 28.10.2022 (S. 44)
Am 14. Oktober 2022 hob um 13.39 Uhr in Zürich eine Boeing 777 in Richtung Miami ab, die die Luftfahrt ein Stück weit verändern könnte. Mitarbeiter der Fluglinie Swiss hatten die Maschine an Rumpf und Triebwerken mit einer dünnen Folie beklebt, an der die Lufthansa Technik mit dem Chemiekonzern BASF jahrelang geforscht hatten.
Der dünne Film soll künftig den widrigsten Umständen standhalten: über 50 Grad Celsius Außentemperatur, die kurz später auf minus 60 Grad abfallen kann. Er soll dem Sand und Dreck vom Boden genauso trotzen wie Enteisungsflüssigkeiten und der hohen UV-Strahlung über den Wolken. Und das alles bei einer Geschwindigkeit von 900 km/h. Das Bemerkenswerteste an der Folie ist aber, dass sie die Haut eines Haifischs nachahmt.
Haie können über 50 km/h schnell schwimmen, sie zählen damit zu den flinksten Tieren im Wasser. Das liegt auch an ihrer Haut. Sie ist nicht glatt, sondern von winzige Furchen durchzogen, die auf die Strömungsrichtung ausgerichtet sind. So können die Haie leichter durchs Wasser gleiten. Von der Haihaut-Folie am Boeing-Rumpf erhofft sich die Schweizer Fluglinie künftig weniger Luftwiderstand, weniger Treibstoffverbrauch, weniger CO2-Emissionen.
Seit tausenden Jahren lassen sich Menschen von der Natur inspirieren. Ikarus stürzt in der griechischen Mythologie mit aus Federn selbst gebastelten Flügeln ab, römische Legionäre formten mit ihren Schilden einen durchgängigen Panzer, der den Trupp von allen Seiten schützte, und nannten das Schildkrötenformation. In der Renaissance studierte das italienische Universalgenie Leonardo da Vinci das Flugverhalten der Vögel und entwarf daraufhin erste Fluggeräte, der deutsche Flugpionier Otto Lilienthal gab Ende des 19. Jahrhunderts sein Werk "Der Vogelflug als Grundlage der Fliegekunst" heraus.
Für das Abkupfern von der Natur hat sich der Fachbegriff "Bionik" etabliert, ein Kofferwort aus Biologie und Technik. Von der Architektur bis zur Robotik, von der Medizin über die Materialkunde bis hin zur Weltraumforschung lassen sich auch heute noch Erfinder von der Tier-und Pflanzenwelt inspirieren. Die Evolution hat hocheffiziente Geschöpfe geformt, die über Millionen Jahre hinweg einem unerbittlichen Auswahlverfahren standhalten mussten.
Als ein Klassiker der Bionik gilt der Klettverschluss. Der Schweizer Waidmann Georges de Mestral kam nach einer Jagd mit seinem Hund aus dem Wald und bemerkte: Überall haftete die Klettfrucht, an seinem Gewand, auch im Fell seines Hundes war sie hängen geblieben. De Mestral untersuchte die Kletten unterm Mikroskop und baute daraufhin den Haltemechanismus nach: auf der einen Seite kleine Widerhaken, auf der anderen kleine Schlaufen, in denen sie sich verheddern.
Der Klettverschluss ist nun auch die erste Station der neuen Ausstellung "BioInspiration", in der sich das Technische Museum Wien mit dem Thema auseinandersetzt. "Wir wollen Jugendliche inspirieren, da ist die Ausstellung für uns aufgelegt", sagt Peter Aufreiter, Generaldirektor des Museums, der auf viele Aha-Momente hofft. "Uns ist oft gar nicht bewusst, wie die Natur die Technik beeinflusst." Etwa das Prinzip Saugnapf, das man sich von den Tentakeln der Kraken abgeschaut hat.
Die Ausstellung zeigt nicht nur die Klassiker der Bionik, sondern verdeutlicht das Potenzial, das noch in ihr schlummert. Zum Beispiel in der Medizin. Es gibt bereits erste Prototypen von Spritzen, die dem Rüssel der Stechmücke nachgeahmt sind. Die Insekten sind ja auch deshalb so effektiv, weil man nicht bemerkt, wenn sie einen stechen. Ebenso schmerzfrei sollen die Spritzen bald unter die Haut gehen.
Anderes Beispiel: Buckelwale. Sie bewegen sich dank der Form ihrer Flossen trotz ihrer Masse geschmeidig durchs Wasser. Rotorblätter, die der Funktionsweise dieser Flossen nachempfunden sind, könnten Windkraftanlagen künftig effizienter und leiser machen. Nicht immer ist die technische Kopie der Natur nachhaltig -das zeigt in der Ausstellung der Klettverschluss aus Plastik. Aber dennoch könnte die Bionik dabei helfen, den Umweltschutz voranzubringen.