

Zweibeinige Riesenbirne
Julia Kospach in FALTER 12/2024 vom 20.03.2024 (S. 35)
Alles an diesem Buch ist auf kauzige Weise originell: der Titel „Dickschädels Reisen“; das Schwarzweiß-Cover, das als einzigen Farbklecks eine dottergelber Goldhaube auf Anton Bruckners kahlem Haupt zeigt; dann das – beinah – Mehr-breit-als-hoch-Quartformat des Buchs, das angenehm schwer wie eine gut gefüllte Pralinenschachtel in der Hand liegt; schließlich die vielen QR-Codes im Inneren, die nach fast jedem Kapitel ein Bruckner-Hörerlebnis erlauben, sowie die grafischen Elemente, die aus stilisierten Goldhauben, aus Linien und Ortspunkten nach und nach ein Kartennetz des von Bruckner durchstreiften, durchlittenen, durchzechten, aber vor allem durchspielten und -komponierten Oberösterreich entstehen lassen.
Wunderbar! Dazu Buchautor Florian Sedmak, der sich dem verhaltensoriginellen „Klanggiganten“ Anton Bruckner mit Witz, Kenntnisreichtum sowie Sinn fürs Tragikomische nähert. Sedmak ist einer jener Schreibenden, deren Stil per se ein Lesevergnügen darstellt, sodass man ihm auch in jedes andere Gebiet als das weite Bruckner-(Seelen-)Land gefolgt wäre. Dass es nun aber um Bruckner geht, ist umso erfreulicher, als der oberösterreichische Komponist seinem oberösterreichischen Beschreiber – Sedmak stammt aus Bad Ischl und lebt in Vorchdorf – eine überreiche Fundgrube darstellt. Und was für eine! „Er lernte, studierte und übte fanatisch, saß Stunde um Stunde an seinen Kompositionen, trank Kaffee wie andere Wasser, verschlang gigantische Portionen, ließ sich des Abends mit bis zu dreizehn kleinen Bieren volllaufen, betete im Akkord, machte jungen und sehr jungen Frauen fast wahllos Heiratsanträge und zählte, was sich nur zählen ließ.“
So kommt es auch, dass Sedmak Bruckner als Menschen beschreibt, „den man nicht zwingend mögen muss, aber nur schwerlich uninteressant finden kann“. Das wird in den folgenden gut 40 Kapiteln untermauert und bringt Schwung in die Bruckner-Exegese, für die ja – just im Jahr seines 200. Geburtstags – gilt, was Sedmak über Bruckners Aufenthalte in Stift Kremsmünster notiert: „alles bekannt, alles erforscht, alles tausendmal erzählt“.
Gewiss, aber nicht so vergnüglich wie in Sedmaks kursorischem Streifzug durch die 37 Orte, mit denen Bruckner verbunden war – von Linz und Sankt Florian über Steyr, Bad Goisern und Gmunden bis zu Tillysburg oder Bad Kreuzen. In Letzterem ließ sich ein „durch maßlosen Lebenswandel und exzessives Arbeiten“ zerrütteter Bruckner in der „Kaltwasser- und Nervenheilanstalt“ gegen Wahnvorstellungen behandeln.
„Halb Mostschädel, halb Weltbürger“: Die „zweibeinige Riesenbirne“ (so eine zeitgenössische Beschreibung Bruckners) kam vom Land, „das er und das ihn nie verließ“, wie Norbert Trawöger, künstlerischer Direktor des Bruckner-Orchesters Linz, im Vorwort vermerkt. Auch wenn er als Orgelvirtuose in England, Frankreich und Deutschland wie ein Rockstar gefeiert wurde und Jahrzehnte in Wien verbrachte.
Sedmak widmet sich mit tiefer Empathie dem Landei Bruckner, ob als Sängerknabe in Sankt Florian oder als Orgelstürmer in unzähligen Kirchen. In Linz forscht Sedmak kühn nach mentalen Bezugspunkten zwischen Bruckner und Hitler (Wagner-Verehrung, Sängerknaben-Vergangenheit, schwieriges Verhältnis zu Frauen). In Ansfelden erstellt er Bruckner ein Geburtshoroskop „im Zeichen der Jungfrau“ (das im doppelten Wortsinn zugetroffen haben dürfte), er zeigt Bruckner in Windhaag und Kronsdorf als Lehrer, Bauer und Tanzgeiger, in Wirtshäusern als Vielfraß und Bierzecher, in Micheldorf als Zwangsneurotiker mit gleich mehreren ausgewachsenen Obsessionen (Mexiko, Hinrichtungen, Hochgebirgsgipfel) und als Sommerfrischler in Bad Goisern und Bad Ischl.
Schön und ergreifend ist das. Durch „Dickschädels Reisen“ wird einem die zerrissene Figur Anton Bruckners fast greifbar lebendig und mit ihr seine Zeit und Herkunftslandschaft: Oberösterreich im 19. Jahrhundert.