

Die undogmatisch Moderne
Otto Kapfinger in FALTER 43/2025 vom 22.10.2025 (S. 33)
Die Architekturhistorikerin Judith Eiblmayr erzählt in ihrem aktuellen Buch die hierzulande unbekannte Erfolgsstory einer Architektin aus Wien. Die Karriere von Elizabeth Scheu Close (1912-2011) reichte von der Ära des New Deal über den Zweiten Weltkrieg hinweg bis in die Wirtschaftswunderzeit der 1950er-Jahre hinein.
Elizabeth Scheu wuchs in einem emblematischen Bau der Wiener Moderne auf, dem 1912/13 von Adolf Loos für Gustav Scheu und Helene Scheu-Riesz errichteten "Terrassenhaus" im Wiener Bezirk Hietzing. Anwalt Gustav Scheu war 1919-21 als Stadtrat maßgeblich an der Pionierphase der Wiener Siedlerbewegung beteiligt. Und er unterstützte die Berufung von Loos als Chefplaner am kommunalen Siedlungsamt.
Helene Scheu-Riesz war eine bekannte Übersetzerin und Lyrikerin, Großvater Josef Scheu Musiker und Mitbegründer der Wiener Sozialdemokratie; er komponierte das berühmte "Lied von der Arbeit".
Was das von der Grafikdesignerin Andrea Neuwirth sehr anregend aus Originaldokumenten und heutiger Fotografie gestaltete Buch so besonders macht: Es erklärt den eminenten familiären Wiener Hintergrund dieser Karriere -ein intellektuelles Biotop, das von 1900 bis in die 1920er-Jahre ein Zentrum lokaler Reformbewegungen bildete. Die sozialpolitischen und fachlichen Netzwerke ebneten den Weg der begabten Frau nach Amerika und stimulierten dort noch weitere Impulse und Kooperationen.
Der Scheu-Clan hatte schon vor 1900 enge Beziehungen zur Sozialdemokratie in Deutschland, zur sozialistischen Fabian Society in England, zu der etwa der Schriftsteller George Bernard Shaw gehörte. Die Scheus waren in Kontakt zu William Morris, dem Begründer des Arts and Crafts Movement, und den Akteuren der Gartenstadtbewegung um Ebenezer Howard. Das 1913 angelegte Gästebuch der Villa Scheu -heute in der Sammlung des Wien Museums -ist ein Who's who dieser Szene.
Es enthält Einträge des Architekten Josef Frank, der Alternativpädagogin Eugenie Schwarzwald, des Malers Oskar Kokoschka - bis zu Grüßen der später in den USA erfolgreichen Architekten und Stadtplaner Victor Gruen und Richard Neutra.
Ein 1930 an der Technischen Hochschule Wien begonnenes Architekturstudium brach Elizabeth wegen des dort herrschenden Antisemitismus ab. Sie setzte ihr Studium am MIT in der US-Stadt Boston fort. Von ihrem Diplom 1935 an entwickelte sie -im Buch mit Skizzen, präzisen Planrissen und reichen Fotodokumenten gut nachvollziehbar - den eigenständigen Charakter ihrer Baukunst. Sie lehnte sich an Konzepte von Loos, Josef Frank oder dem Amerikaner Frank Lloyd Wright an. Durch sorgfältige Beachtung der Nutzerwünsche und der Komponenten urbaner oder landschaftlicher Umgebung entwickelte sie die Vorbilder weiter.
1988 verlieh das American Institute of Architects den 25-Year Award für ein 1955 von Elizabeth Scheu Close mit ihrem Partner Winston Close errichtetes Haus in idyllischer Umgebung. Der Juryspruch lobte die spezifische Reaktion auf den Bauplatz: "Kein Teil des Entwurfs wird einfach als funktionale Notwendigkeit akzeptiert. Die Gestaltung ist auf jeder Ebene durchdacht, von den Sitzgelegenheiten bis zu den Fensterpfosten. Sie erfüllt alle Anforderungen, moduliert die Aussicht und nimmt die Landschaft auf. Das Ergebnis ist wunderbar frisch."
Um 1988 zogen sich Elizabeth und Winston, die sich 1934 beim Studium in Boston kennengelernt hatten und ab 1938 in Minneapolis, Minnesota, ein gemeinsames Büro führten, aus dem Berufsleben zurück. In gut 50 Jahren hatten sie etwa 500 Bauten aller Maßstäbe und Kategorien im Mittleren Westen realisiert.
Von 1946 bis 1971, als Winston eine Professur an der Universität in Minneapolis hatte und die bauliche Koordinierung des neuen Universitätscampus leisten musste, führte hauptsächlich Elizabeth das Atelier. Ihr gemeinsames Œuvre reichte vom Bungalow über Villen, Atelierhäuser, Wohnhausanlagen, etliche Kliniken und Krankenhäuser, Universitätsbauten und städtebauliche Projekte bis zu Planungen für preiswerte, vorgefertigte Einfamilienhäuser am Beginn der Boom-Jahre.
Zu ihrem 90. Geburtstag erhielt Elizabeth vom American Institute of Architects die Ehrung für ihr Lebenswerk. Der Wienerin gelang ein, gemessen an vergleichbaren Biografien, selten so geglücktes Œuvre in der Emigration.
Judith Eiblmayr, Architektin und Publizistin, ist bei ihren Recherchen über die Geschichte moderner Architektur, etwa zum Hochhaus in der Wiener Herrengasse, seit Jahren unkonventionell unterwegs. Leben und Werk von Scheu Close fanden eine Erzählerin, die mit feinsinnigem Fachwissen, sozialer Haltung und kongenialem Sehund Sprachvermögen ausgestattet ist. In diesem Buch begegnen wir dem erstaunlichen Erfolg einer in Wien vor 1914 angelegten, undogmatischen, unpathetischen Modernität.