

Kronjuwelen und Sozialismus
Sebastian Gilli in FALTER 42/2022 vom 21.10.2022 (S. 16)
Was Familiengeschichten anbelangt, herrscht in der Literatur kein Mangel. Die Beschäftigung mit der eigenen Herkunft kommt nicht aus der Mode. So hält auch der Schwede Gunnar Bolin seine Familie für erzählenswert.
In Schweden ist Gunnar Bolin, Jahrgang 1957, ein bekannter Radiojournalist und Produzent; noch berühmter aber ist die Familie selbst: Seit dem Ende des 18. Jahrhunderts versorgten die Bolins die russische Zarenfamilie mit Geschmeide und beliefern bis in die Gegenwart das schwedische Königshaus.
„Die Kinder des Hofjuweliers“ ist denn auch der etwas fantasiearme Titel der chronologisch aufgebauten Familiensaga, für die Bolin sehr umfangreich und genau recherchiert hat. Zu Beginn überwiegt eine rein sachliche Journalistensprache. Man kann das auch als langsame Annäherung des Autors an seine Altvorderen lesen, deren intime Lebensgeschichten offen und schonungslos zu zeigen auch mit Hemmungen einhergeht und Mut abverlangt.
Insofern kommt der ausgewiesene „Roman“ dem Sachbuch sehr nahe. Weil Archive aber Lücken und Familiengeheimnisse offenlassen, greift der belesene Bolin auch auf die Mittel der Literatur zurück. Die Zeichnung der einzelnen Charaktere, vor allem der divenhaften Großmutter Karin oder des ambivalenten Vaters Gerhard, der in der deutschen Wehrmacht diente, belegen die sprachliche Gewandtheit des Autors.
Zuweilen wähnt man sich allerdings auch im Seminar; es ist quasi eine Einheit in österreichischer Geschichte vom Ersten Weltkrieg über den Austrofaschismus und die Nazizeit bis in die Zweite Republik. Neben den historischen Standardwerken hat Bolin auch die maßgeblichen Autoren jener Zeit gelesen: Robert Musil, Elias und Veza Canetti, Joseph Roth, Karl Kraus ...
Auf Interesse stößt die verwandtschaftliche Verbindung besagter Karin mit ihrem Onkel Karl Seitz, der ab 1923 als Wiener Bürgermeister maßgeblich die Blütezeit des Roten Wien prägte. Karins Ehe mit Ernst Hoffenreich, der aus dem Wiener Großbürgertum stammt, aber als Sozialist die burgenländische Politik gestaltet, steht unter keinem guten Stern. Das Leben in Wiener Neustadt ist für Karin ob der Enge und der ständigen Abwesenheit ihres Mannes schrecklich. Sie, die nicht die erwartete Mutterrolle einnimmt, fährt nach Wien, wo sie Karl Seitz trifft, der ihre Begeisterung für das Großstadtleben weckt.
Innerhalb der kosmopolitischen und polyglotten Familie Bolin, deren Wurzeln nach Russland, Schweden und Österreich reichen, herrscht ein Spannungsverhältnis zwischen aristokratischem Gehabe und sozialistischem Engagement. Vertreibung und Verfolgung durch die tödlichen Ideologien des 20. Jahrhunderts beeinflussen die Figuren, die auch so manche Schrulle aufweisen: Gunnars Vater Gerhard etwa ist äußerst geizig, außerdem waren ihm die Handtücher nach dem Duschen immer zu nass: „Er zeigte uns, wie man das Wasser mit den Händen von den Beinen streichen konnte, ehe man sich abtrocknete.“