
Auf Du und Du mit Who's who und trotzdem verloren
Tessa Szyszkowitz in FALTER 45/2022 vom 09.11.2022 (S. 15)
Am 3. Dezember 1989 wartete Michail Gorbatschow auf dem sowjetischen Kreuzfahrtschiff Maxim Gorki vor Malta auf US-Präsident George Bush senior. Da dieser wegen hohen Seegangs nie eintraf, plauderte der Sowjetreformer eben mit seiner Frau Raissa. Und mit Hella Pick. Mit wem auch sonst.
Wer die Memoiren der britisch-österreichischen Journalistin liest, lernt schnell: Hella Pick war im Laufe ihrer langen Karriere als diplomatische Korrespondentin der britischen Tageszeitung The Guardian überall, wo auf diesem Globus Außenpolitik gemacht wurde. Dass sie in diesem Job die erste Frau war, macht ihre Karriere umso bemerkenswerter. Ihre Autobiografie "Unsichtbare Mauern" ist gerade erschienen - einfühlsam von Jacqueline Csuss ins Deutsche übersetzt.
Einzelne Kapitel lesen sich wie ein Who's who der Weltpolitik während des Kalten Krieges: Willy Brandt, Lech Wałęsa, Nicolae Ceaușescu -mit dem rumänischen Diktator war sie in der Downing Street beim damaligen britischen Regierungschef James Callaghan zum Mittagessen eingeladen. Der polnische General Wojciech Jaruzelski überraschte sie mit einem Strauß roter Rosen.
Es war ihr nicht in die Wiege gelegt worden, eine der wichtigsten Journalistinnen des Vereinigten Königreichs zu werden. Geboren wurde Hella Pick in eine jüdische Familie in Wien. Ihre Mutter schickte sie im März 1939 mit einem Kindertransport nach England. Nach dem antijüdischen Pogrom im November 1938 hatte die britische Regierung zugestimmt, jüdische Kinder aufzunehmen, die von britischen Familien oder Organisationen gesponsert wurden. 10.000 Kinder wurden so gerettet.
Die elfjährige Hella kam mit der Nummer 4672 in der Liverpool Street in London an und begrüßte ihre Leihfamilie mit dem einzigen Wort, das sie auf Englisch kannte: "Goodbye."
Dem Kind war nicht bewusst, dass es noch Glück im Unglück gehabt hatte. Die ersten Jahre waren hart. Ihre Mutter Hanna konnte ihr bald nach England folgen. Hanna musste sich als Köchin bei einer Familie verdingen. Höhere Bildung für die Tochter war nicht vorgesehen. Doch Hella setzte sich mit eisernem Willen durch. Sie studierte an der London School of Economics und fand ihren ersten Job als Journalistin beim Magazin West Africa. Ab 1960 arbeitete sie für The Guardian, das Flaggschiff des linksliberalen Qualitätsjournalismus. Zuerst als UN-Korrespondentin in New York, dann als diplomatische Korrespondentin.
"Mein Gedächtnis ist ein Sammelsurium aus Scherben und Schnipseln", bekennt die heute 93-jährige Doyenne des britischen Journalismus. Dabei arbeitet sie immer noch. Alan Rusbridger, der sie in seiner Zeit als Chefredakteur des Guardian 1996 in den Ruhestand zwang, ist inzwischen selbst abgelöst worden. Er leitet jetzt das Monatsmagazin Prospect Magazine und Pick liefert ihm spezielle Features. Letztens war sie bei Edmund de Waal im Studio, dem ebenfalls austrobritischen Autor von "Der Hase mit den Bernsteinaugen".
So verbindet Hella Pick alles, was ihr lieb ist: den Journalismus und ihre beiden Heimaten Großbritannien und Österreich. "Meinem Bündel an Identitäten sind die greifbaren Prioritäten abhanden gekommen", bekennt sie am Ende ihrer Erinnerungen. Österreich hat sie als Jüdin verfolgt, der Brexit hat sie als Europäerin abgestoßen, das Jüdische hat ihr nie den Anker gegeben, den sie vor 2016 als Britin hatte. Die Unsicherheit des entwurzelten Kindes ist ihr geblieben. So schließt Picks Buch, wie es begann. Hinter unsichtbaren Mauern, die sie trotz aller Erfolge nie hat einreißen können.


