

"Wie geht Widerstand, Frau Berger-Volle?"
Nils Klawitter in FALTER 38/2024 vom 20.09.2024 (S. 34)
Sie war erst 16 Jahre alt, als Adolf Hitler im März 1938 auf dem Wiener Heldenplatz bejubelt und Österreich Teil Nazi-Deutschlands wurde. Kurz darauf flüchtete das junge Wiener Mädchen nach Frankreich und in den Widerstand. Heute ist Maria Berger-Volle 102 Jahre alt und eine der letzten noch lebenden Zeitzeuginnen. Mit dem Falter sprach sie über ihre Jugend in der Résistance, Österreich vor den Nationalratswahlen und wieso sie ihre Heimatstadt Wien gleich zwei Mal verließ.
Falter: Vor wenigen Tagen standen Sie auf dem Balkon der Wiener Hofburg und schauten hinunter auf den Heldenplatz. Was ging Ihnen da durch den Kopf?
Melanie Berger-Volle: Der erste Gedanke in diesem Moment war, wie ich mich vor diesem starken Regen schützen kann. Aber natürlich dachte ich auch daran, wie ich seinerzeit unten in der Masse von Menschen stand, am 15. März 1938. Ich war 16 Jahre alt und hatte mich von der Miedermacherschule, die ich zu dieser Zeit besuchte, dorthin aufgemacht. Oben auf dem Balkon stand Adolf Hitler und die Menschen haben gejubelt, die allermeisten zumindest. Er hat gesprochen, na eher geschrien, dass das deutsche Volk zusammenkommen solle. Die Rede hat nicht lange gedauert und ich habe mich danach auf eine Bank gesetzt und geweint. Ein Mann kam auf mich zu und fragte, warum ich weine, und ich sagte ihm: "Sehen Sie nicht, es wird Krieg kommen. Er wird nicht bei Österreich Halt machen." Der Mann sagte, ich solle das bloß nicht weitererzählen -und ging schnell weg.
"Volksverrat","Systemparteien" - das damals populäre Vokabular hat FPÖ-Parteichef und Spitzenkandidat Herbert Kickl neu aufgelegt. In knapp zwei Wochen könnte seine Partei die Wahl in Österreich gewinnen. Kickl sagt, er hat bereits "Fahndungslisten" von Politikern erstellt. Wie klingt diese Wortwahl für Sie?
Berger-Volle: Am Ende solcher Worte steht die Möglichkeit, die einzusperren, die anderer Meinung sind. Damals hatte die Polizei auch Fahndungslisten. In unserem Gemeindebau in der Erlafstraße im zweiten Bezirk hat mich der Hausmeister, ein Sozialdemokrat, gewarnt, dass nach mir schon gesucht werde. Nicht, weil ich jüdische Eltern hatte, das kam nur obendrauf. Sondern weil die Freundesgruppe, der ich damals angehörte, gegen die Faschisten war. Wir haben damals die Häuserwände mit Anti-Hitler-Zetteln vollgeklebt -und waren zuvor schon gegen den Austrofaschismus aktiv.
In Österreich möchte Kickl "Volkskanzler" werden. Von ihm und seiner Partei ist zu hören, das Recht habe der Politik zu folgen.
Berger-Volle: Tja, das Volk, das sind viele. Im Namen des Volkes kann man viel anstellen. Im Namen des Volkes geht es einmal gegen Juden, dann wieder gegen Muslime. Ein nächstes Mal sind Journalisten dran, dann vielleicht Kapitalisten?
Viele Leute denken, sie könnten nichts mehr verlieren, und wählen deshalb rechtsextrem. Berger-Volle: Die Leute könnten etwas verlieren: ihre Freiheit.
Sind wir zu demokratieverwöhnt, um das zu merken?
Berger-Volle: Vielleicht. Hier können Sie lieben, wen Sie mögen, wählen oder nicht, protestieren oder es lassen. In Russland werden Sie mitunter verhaftet, wenn Sie an einem Grab Blumen niederlegen. In arabischen Diktaturen werden Frauen eingesperrt, weil sie ein falsches Lied gesungen haben. Manchmal fragen mich Schüler, worin der Unterschied zwischen einer Diktatur und einer Demokratie liege. Ich sage ihnen dann: "Eine Diktatur tötet."
Wie ging Ihr Leben in Wien nach Hitlers Rede weiter?
Berger-Volle: Schon im Mai 1938, knapp zwei Monate nach Hitlers Rede, musste ich aus meiner Heimatstadt Wien fliehen. Meine Freunde und ich, wir waren eine kleine trotzkistische Gruppe und deshalb in Gefahr. Am Muttertag habe ich mich von meinen Eltern verabschiedet und bin mit zwei Freunden per Anhalter durch Deutschland an die Grenze zu Belgien gereist, wo ein Schleuser bereitstand, der allerdings vorher mit mir ins Hotel wollte. Ich konnte das verhindern und kam dann nachts rüber nach Belgien, wo wir die anderen wiedergetroffen haben. Später sind wir nach Südfrankreich geflohen.
Hatten Sie Angst?
Berger-Volle: Natürlich. Aber sobald wir etwas taten, ging die Angst weg. Wir waren wohl, wie es heute recht oft heißt, gestresst. Wir kannten das Wort damals nicht, aber ich war ständig unter Druck. Ich habe mich dauernd umgedreht, ob mir jemand folgt. Und ich habe mich kaum getraut zu sprechen, wegen meines Akzents. Jede Ausweiskontrolle konnte Gefängnis bedeuten.
Wie geht Widerstand?
Berger-Volle: Er fängt mit einem Kopfschütteln an. Ich selbst habe als Jugendliche nicht viel mehr gemacht, als nach dem niedergeschossenen Arbeiteraufstand von 1934 Nein zum Austrofaschismus zu sagen. Aber das hat mein Leben geprägt: Nein sagen, wenn es ungerecht wird. Auch in der Résistance war ich nur ein kleiner Tropfen. Aber viele kleine Tropfen machen einen Fluss. Und Widerstand geht nur zusammen. Das haben wir in Frankreich erfahren, wo wir Widerstandsbulletins produziert haben - auch, um deutsche Soldaten zur Umkehr zu bewegen. Das war nicht einfach, denn wir waren lange sehr auf uns allein gestellt. Schon der Besitz einer Schreibmaschine war verdächtig. Die Widerstandsgruppen waren sehr unterschiedlich, was auch wir zu spüren bekommen haben. Vor den Stalinisten etwa mussten wir uns immer in Acht nehmen. Schon in Deutschland hatte es ja nicht geklappt, dass sich die Sozialdemokraten und die Kommunisten, die beide gegen Hitler waren, zusammenraufen. Diese Gräben haben sich innerhalb der Résistance teilweise noch vertieft. Auch unsere Gruppe hatte ziemlich linke Parolen, doch für mich war immer klar: Ich war gegen jede Diktatur, auch gegen die des Proletariats.
Sie sind Anfang 1942 von der französischen Polizei verhaftet und ins Gefängnis gesteckt worden. Was hat Sie am Leben gehalten?
Berger-Volle: Ich bin wegen meiner angeblich kommunistischen Aktivität in Toulouse zu 15 Jahren Gefängnis verurteilt worden. Das war zuerst ein Schock für mich. Ich war 20 Jahre alt und mein Leben schien zu Ende. Aber ich habe mich daran festgehalten, dass dieser ganze Spuk niemals 15 Jahre dauern kann. Es tröpfelten zu uns ja damals bereits Nachrichten ins Gefängnis, dass die Alliierten näher rücken.
Zunächst kamen aber die Deutschen näher. Die deutsche Wehrmacht besetzte Ende 1942 Südfrankreich und suchte die Gefängnisse nach politischen Gegnern ab. Wie haben Sie das ausgehalten?
Berger-Volle: Wahrscheinlich, indem ich das Positive gesehen und auf meine Gruppe gehofft habe. Die haben mich dann ja auch tatsächlich aus dem Gefängnis geholt, und zwar mit einem Trick. Sie kamen als Gestapo-Beamte verkleidet und erklärten in lautem deutschen Befehlston, sie müssen mich zu einem angeblichen Verhör abholen. Damit gingen sie ein enormes Risiko ein, aber es hat funktioniert.
Sie sprechen noch heute fast jede Woche vor Schülerinnen und Schülern, nicht nur vor französischen, sondern auch vor deutschen und österreichischen. Wenn Sie sehen, wie stark die rechten Parteien auch in Frankreich und in Deutschland geworden sind, verlässt Sie mitunter die Hoffnung?
Berger-Volle: Das kommt manchmal vor. Aber ich sehe auch die vielen jungen Leute, die gegen die Demagogen und für die Demokratie demonstrieren. Und dann habe ich wieder gute Laune. Mich hat nach einer Veranstaltung hier in Wien ein Mädchen gefragt, was sie jetzt in Österreich machen könne. Sie war noch in der Schule. Ich habe sie gefragt, ob es an ihrer Schule Leute gibt, die andere niederdrücken. Sie sagte mir, ja, das komme vor. "Da kannst du etwas machen", riet ich ihr, "du kannst hingehen und fragen, warum sie das tun." Das hört sich nicht weltbewegend an, aber so kann man beginnen.
Serge Klarsfeld, Nazi-Jäger und lange quasi das jüdische Gewissen Frankreichs, hat kürzlich empfohlen, Marine Le Pen zu wählen. Kommen die rechten Parteien in der Mitte der Gesellschaft an? Berger-Volle: Das hoffe ich nicht und ich kenne viele jüdische Bürgerinnen und Bürger, die das absolut anders sehen. Man sollte nicht vergessen, durch wen die Partei geprägt wurde, nämlich durch Le Pens Vater, der die Gaskammern der Nazis als ein Detail der Geschichte bezeichnet hat. Ich sehe diese Partei nicht als Beschützerin der Jüdinnen und Juden, wie Klarsfeld, wobei ich selbst sowieso Atheistin bin. Mit 13 Jahren habe ich meinen Religionslehrer mit der Frage genervt, wie viele Götter es gebe. Er antwortete mir: "Einen einzigen." Ich fragte ihn darauf: "Aber warum gibt es so viele Religionen?" Gott und die Religionen, sagte ich ihm, existierten nur, weil die Menschen sie geschaffen hätten.
Sie wurden sowohl von Frankreich als auch von Österreich für Ihre Erinnerungsarbeit hoch dekoriert. Sie könnten sich beruhigt zurücklehnen, oder?
Berger-Volle: Das würde ich gern. Aber mir kommt immer wieder etwas dazwischen. Bei den Olympischen Spielen, die vergangenen Juni in Frankreich eröffnet wurden, durfte ich die Olympische Flamme ein kleines Stück durch meine Stadt Saint-Étienne tragen. Und vor einigen Tagen hat mich der Wiener Bürgermeister Michael Ludwig geehrt. Dafür bin ich sehr dankbar.
Was empfinden Sie für Österreich?
Berger-Volle: Ich habe das Österreichische in meinem Herzen. Ich bin hier aufgewachsen, in die Schule gegangen, ich habe das Land für meine Heimat gehalten. Ich spreche die Sprache und ich liebe die Wiener Mehlspeisen, die früher womöglich ein wenig aufmerksamer zubereitet wurden als heute. Aber wir wurden hier eben auch rausgeworfen im Jahr 1938.
Sie kehrten 1956 nach Wien zurück und lernten hier Ihren späteren Ehemann, den französischen Journalisten Lucien Volle, kennen. Zehn Jahre später verließen Sie die Stadt wieder. Warum?
Berger-Volle: Es gab nicht den einen Grund, aber meinen Mann zog es eher nach Frankreich. Für mich gab es einige Sachen, die ich nicht vergessen konnte: Zum einen hatte ich gesehen, wie jüdische Bürger kurz nach dem "Anschluss" gezwungen wurden, mit Bürsten oder Zahnbürsten die Straßen zu reinigen, unter dem Applaus der neuen deutschen Reichsbürger, die doch ihre Nachbarn waren. Zum anderen kamen dann nach dem Krieg die aus den Löchern, die diese unmenschliche Politik geprägt hatten: alte Nazis, die damals die FPÖ gründeten. Das hat es mir recht leicht gemacht, wieder zu gehen.