

Kafkas Landarzt im Weißen Hirschen
Antonio Fian in FALTER 43/2020 vom 21.10.2020 (S. 19)
Als ich Gymnasiast war, gab es noch Samstagsunterricht, und nach dessen Ende hatten wir es eilig, nachhause zu kommen, denn da begann auf Ö3 Otto Grünmandls „Alpenländisches Interview“. Wir waren diesen kurzen Hörstücken verfallen und konnten, montags wieder in der Schule, nicht genug davon bekommen, einander mit Zitaten daraus zu unterhalten. Auf die Wiederveröffentlichung dieser 1973 erschienenen und längst vergriffenen Texte wird man bis zum Erscheinen des dritten Bandes der auf fünf Bände angelegten Grünmandl-Werkausgabe warten müssen. Es lohnt aber, sich die Wartezeit mit den ersten beiden Bänden zu verkürzen und so die weniger bekannten Arbeiten des Tiroler Kabarettisten und Schriftstellers kennenzulernen. Waren es in Band eins Lyrik und Kurzprosa, die (wieder) zu entdecken waren, so versammelt Band zwei nun Grünmandls drei Romane.
Der erste von ihnen, „Pizarrini“, stand seinerzeit im Otto Müller Verlag zur Diskussion, aber Grünmandl ahnte bald, dass sein Buch nicht ins Programm dieses „ausgeprägt katholischen Verlages“ passen und er damit weiter „hausieren“ gehen müssen würde: „Einem gewöhnlichen Hausierer wird wenigstens gleich die Tür vor der Nase zugeschlagen, wenn man ihm nichts abkauft. Bei unsereinem dauert dies mindestens fünf bis sechs Wochen.“ Gedauert hat es 60 Jahre: Sieben Jahre nach dem Tod des Autors erschien „Pizarrini“ bei Kyrene.
Hauptfigur des Romans ist ein „Buchhalter aus innerer Berufung“ mit der Lebensmaxime „Ordnung halten“. Aber gerade der Wunsch, all die Dinge zu erledigen, die im Leben eines Menschen erledigt werden müssen, bringt schließlich alle Ordnung zum Einsturz. Da zu diesen Dingen nach Pizarrinis Auffassung auch die geschlechtliche Vereinigung mit einer Frau gehört, führt ihn sein erster Weg ins Bordell und dieser unglücklich verlaufende Besuch zu dem Entschluss, sich im Weißen Hirschen zu betrinken. Und weil Pizarrini sein halbes Monatsgehalt bei sich hat, gesellen sich bald zwei Herren zu ihm, und es beginnt, während maßlos gegessen und getrunken wird, eine wild mäandernde Geschichte, in der eine Interkontinentale Speisewagen AG und sogenannte Fressrobots eine wichtige Rolle spielen – Automaten, die dazu eingesetzt werden, durch ihr genussvolles Essen und die begleitenden „autonomen Sätze“ andere zur Konsumation zu animieren und so den Umsatz der ISAG zu heben. Diese Vorliebe für seltsame Erfindungen und Automaten wird Grünmandl später in der Serie „Alpenländische Erfindungen“ um manches Glanzstück erweitern.
Formal folgt „Pizzarini“ einer Rausch- oder Traumlogik, so, als habe sich Kafkas „Landarzt“ in den Weißen Hirschen verirrt. Unvermittelt tauchen etwa Kinder auf, die einen Sportwagen lenken: „Pizarrini konnte gerade noch zur Seite springen. Den Chef jedoch erwischte es. […] Die wilden Kinder auf dem Mordial 22 hupten wie verrückt, als sie den Alten niederstürzen sahen, schrien: ,Wieder einen, wieder einen‘, und winkten Pizarrini mit bunten Fähnchen zu.“
Noch unentwirrbarer sind die Erzählebenen in Grünmandls zweitem Roman, „Das Ministerium für Sprichwörter“. Der Erzähler tritt als „44. Hilfsarchivar“ in dieses „geheime Ministerium“ ein. Dieses ist „in einem alten, trotz seiner Größe unscheinbar wirkenden Stadtpalais untergebracht“, und auch hier wird man an Kafka erinnert. Wäre es dessen Landvermesser tatsächlich gelungen, in „Das Schloss“ vorzudringen, er hätte vielleicht ähnliche, aller architektonischen Logik widersprechende Räumlichkeiten und ein ähnlich grotesk-grausames Personal vorgefunden.
Eine linearen Erzählstruktur gibt es noch am ehesten in Grünmandls letztem Roman, „Es leuchtet die Ferne“, obwohl sich der Erzähler mit essayistischen Betrachtungen immer wieder selbst unterbricht. In Briefen an seine Tante, die er zu beerben hofft (weswegen er auch nie vergisst, seine konkurrierende Cousine schlechtzumachen), berichtet er von seiner Reise nach Australien, wo er seine Schwester besuchen will.
In diesen Briefen ist Grünmandl dem Humor seiner Bühnenarbeiten am nächsten, etwa wenn er mit einem Gedicht anhebt: „Herrlich ist’s, gleich Riesenvögeln / frohen Gebrumms mit einem Jumbo-Jet / schnellstens durch die Luft zu segeln, / als ob man Sprit im Leibe hätt’.“ Unmerklich aber wird die Reise auch zu einer Reise in die eigene Biografie. So deutlich wie in keinem anderen Roman fließen das eigene und die Schicksale anderer Familienmitglieder in diesen Text ein. Tatsächlich hat Otto Grünmandls Schwester, die rechtzeitig vor den Nazis nach England flüchten konnte, dem Land ihrer Herkunft für immer den Rücken gekehrt.
Der Roman ist gespickt mit witzigen Betrachtungen über die englische Sprache: „Ich bedankte mich höflich und sagte ,doesn’t matter‘, das ist englisch, man spricht es so ähnlich aus wie ,tausend Meter‘, es heißt aber etwas ganz anderes.“ 1939 besuchte der 15-jährige Autor einen Crashkurs in Englisch, weil er hoffte, seiner Schwester nach England nachfolgen zu können. „I hope we will soon english speak“, schrieb er ihr am 7. August 1939: „I expect every day a letter from Vienna with my visa and passport. You don’t make a idea how merre [sic!] I will be, when there is the letter from Vienna.“
Der ersehnte Brief ist nie angekommen, die Reise war nicht mehr möglich, und für die Familie begannen schwere Jahre. Otto Grünmandl ist dennoch auch nach Kriegsende in Österreich geblieben, ein Glück für uns Nachgeborene. Und ein Glück auch, dass in absehbarer Zeit sein Werk in einer sorgfältigen Ausgabe erhältlich sein wird.