

Was uns der gestiefelte Kater über Ungleichheit erzählt
Eva Konzett in FALTER 19/2025 vom 09.05.2025 (S. 18)
Probieren wir ein kleines Gedankenexperiment. Wenn das gesamte österreichische Vermögen eine Torte wäre, dann könnten auf einer Party die fünf reichsten Prozent fast die halbe Torte davon essen, während 50 Prozent der Bevölkerung sich weniger als ein Tortenstück teilen müssten. So ungleich ist Vermögen in Österreich - und nicht nur hier -verteilt. Tendenz: steigend. Aber ist das überhaupt ein Problem? Ist Ungleichheit nicht ein Anreiz für die Ärmeren, nach oben zu streben? Und was sagt die Vermögensverteilung über die Lebensqualität der Menschen und ihre soziale Absicherung aus?
Normalerweise kümmern sich Ökonomen in Fachpublikationen um diese Sachverhalte. Die ORF-Journalistin Rosa Lyon - sie hat selbst Volkswirtschaft studiert - liefert nun in einem Buch Antworten auch für die interessierte Masse.
Zügig erzählend und gut - vielleicht fast ein bisschen zu eifrig -dokumentierend tastet Lyon sich an die Fragen heran, zitiert Popkultur (so die Prostituierte Vivian aus "Pretty Woman" als Beispiel für nicht vorhandenes soziales Kapital oder den Kanarienvogel des AKW-Besitzers in den "Simpsons" als Beispiel für verschleierte Vermögenswerte) sowie die Gebrüder Grimm. Dann nämlich, wenn das Märchen vom gestiefelten Kater den Lesern den hochkomplexen Gini-Koeffizienzen näherbringt.
Der Gini-Koeffizienz ist eine Messgröße für Ungleichheit in einer Gesellschaft, die er auf einer Skala von null (perfekte Gleichheit) bis eins (perfekte Ungleichheit) auflistet. Lyon gelingt es nicht nur, das Konzept anschaulich zu machen, sie arbeitet gleichzeitig dessen Schwächen heraus. So handelt es sich um eine mathematische Vorgangsweise und nicht um eine moralische Wertung. Einflussfaktoren blendet der Gini-Koeffizienz aus. Und selbst seine Aussagekraft ist beschränkt. Erstens weil "es in der Forschung keine ausreichenden Daten und Zahlen gibt, um ein umfassendes Bild über die ökonomische Verteilung des Wohlstands zu zeichnen", wie Lyon schreibt. Vor allem aber auch, weil diese Messgröße einen entscheidenden Gleichmacher unter den Tisch kehrt. Den Sozialstaat.
Wer beispielsweise in Österreich lebt, (noch) nicht um seine Gesundheitsversorgung oder seine Pension bangen muss, der muss auch weniger ansparen. Er kann Lebensrisiken outsourcen und das Geld stattdessen ausgeben. Der Gini-Koeffizient würde diese Person als arm messen. Am anderen Skalenende steht ein besonders reicher Mensch in einem erodierenden Staat. Er muss mehr Geld aufwenden, um sein Vermögen abzusichern (und sei es durch physische Barrieren wie Stacheldraht). Eine wesentlich "ärmere" Millionärin im österreichischen Rechtsstaat kann sich ausruhen. Ihr Vermögen ist vor dem Zugriff anderer geschützt -in Form von Polizeibeamten und durch bei funktionierenden Gerichten einklagbare Eigentumsrechte.
Wir lernen Mansa Musa kennen, der der reichste Mann der Geschichte gewesen sein soll (bis Elon Musk kam) und der - er lebte im 14. Jahrhundert -sein ganzes Gold immer mitschleppen musste. Wir lernen vom Unsinn des Eigenheims und seiner Rolle als Umverteilung von unten nach oben, von den Fallstricken der Meritokratie und den möglicherweise ökonomischen Ursachen der Fentanylkrise in den USA.
Geschickt verbindet Lyon die Aktualität mit ideengeschichtlicher Grundlage und den für das Verständnis hilfreichen erzählerischen Passagen. Um letztlich zu diesem Fazit zu kommen: "Für die Wirtschaft gelten keine Naturgesetze. Wirtschaft funktioniert so, wie wir sie gestalten."