Die verspielte Welt

Begegnungen und Erinnerungen
240 Seiten, Hardcover
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ISBN 9783711001597
Erscheinungsdatum 10.12.2019
Genre Sachbücher/Politik, Gesellschaft, Wirtschaft
Verlag ecoWing
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Kurzbeschreibung des Verlags



Paul Lendvai – Journalist und Kenner Osteuropas

Paul Lendvai ist mehr als ein Journalist: Er ist ein Kenner Osteuropas und war den Großen und Mächtigen der Welt ein Gesprächspartner. In seinem zehnten Lebensjahrzehnt blickt er für uns noch einmal zurück, auf dass kein falsches Licht aus dem Heute auf die historischen Tatsachen fallen möge:

- Messerscharfe Analysen und ein kritischer Blick auf die europäische Politik

- Begegnungen mit Machthabern und Politikern, Wissenschaftlern und Künstlern und berühmten Persönlichkeiten wie Melvin Lasky, Walter Laqueur und George Soros

- Zeitgeschichte aus erster Hand: Paul Lendvai ist Chefredakteur der Europäischen Rundschau, Leiter des ORF-Europastudios, Kolumnist für den Standard

- Polen und Ungarn, Albanien, der Zerfall Jugoslawiens und der Balkankrieg: Hintergrundwissen zur Geschichte Osteuropas

- Biographische Erinnerungen eines großen Journalisten aus Österreich – persönlich, präzise, pointiert Europa im Umbruch

– Analysen eines Zeitzeugen

Historische Wenden und politische Zäsuren hat Paul Lendvai, der 1929 in Budapest geboren wurde und seit 1957 in Wien lebt, etliche erlebt. Über vieles, was wir nur aus Lehrbüchern und den Nachrichten kennen, berichtet Paul Lendvai aus erster Hand – so zum Beispiel über den Aufstand in Ungarn 1956, das Ende des Kalten Krieges und die Wende 1989/90 in Mittel- und Osteuropa. Sein umfangreiches Wissen und sein Blick in die Vergangenheit helfen uns, heutige Politiker wie Václav Klaus und Viktor Orbán besser einzuschätzen und die komplexen Verflechtungen der Geschichte Osteuropas zu verstehen.

Seine Erinnerungen an herausragende Persönlichkeiten und Anekdoten aus einem bewegten Journalistenleben machen dieses Buch zu einem einzigartigen Schatzkästlein der Zeitgeschichte!


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ISBN 9783711001597
Erscheinungsdatum 10.12.2019
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FALTER-Rezension

Reflexionen eines Wachsamen

Stefanie Panzenböck in FALTER 36/2019 vom 06.09.2019 (S. 19)

Wenn einer eine Reise tut, dann … genau, kann er was erzählen. Wenn jemand über viele Jahrzehnte hinweg so viel gereist ist wie der Publizist Paul Lendvai und so viele Menschen, die diese Jahrzehnte politische geprägt haben, kennengelernt und beobachtet hat, dann hat er unglaublich viel zu berichten. In seinem neuen Buch „Die verspielte Welt“ erzählt Lendvai, der am
24. August seinen 90. Geburtstag feierte (siehe auch Interview in Falter 35/19), von einigen dieser im Untertitel angekündigten „Begegnungen und Erinnerungen“.

Beeindruckend ist etwa das Kapitel über Albanien. Lendvai, der in Ungarn geboren wurde und seit 1957 in Österreich lebt, war einer der wenigen westlichen Journalisten, die das von Diktator Enver Hoxha abgeschottete Land besuchen durften. Das war aufgrund eines Abkommens zwischen dem ORF und einer albanischen Rundfunkanstalt möglich. Die daraus entstandene Dokumentation ließ Lendvai in Albanien dann allerdings „zum journalistischen Staatsfeind“ werden.

Lendvai zieht in seinem Buch lange Verbindungslinien. Er führt in historische Kontexte ein, verknüpft politische Ereignisse und Entwicklungen mit persönlichen Begegnungen. Aufgrund seiner langjährigen Tätigkeit als Auslandskorrespondent und Leiter der Ost-Redaktion des ORF ist es ihm etwa möglich, große Teile der Biografien von prägenden Politikern zu überblicken. Zum Beispiel von Václav Klaus, der nach der Wende unter anderem Minister- und Staatspräsident Tschechiens war. Lendvai beschreibt Klaus’ „Metamorphose“ vom fortschrittlichen Reformer in den 1990ern, zum Gegner der europäischen Integration, der nun zu einem „Star der europäischen Rechten und Ultrarechten“ wurde. In weiteren Kapiteln zeichnet Lendvai die Persönlichkeiten Viktor Orbáns und George Soros’ nach, und er geht den Motivationen Peter Handkes auf den Grund, sich dem serbischen Diktator Slobodan Milošević anzudienen.

Neben einer analytischen und nachdenklichen Reise ist dieses Buch vor allem ein Aufruf, den Kampf für eine liberale Demokratie niemals aufzugeben.

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„Ich hasse den Verrat der Intellektuellen“

Stefanie Panzenböck in FALTER 35/2019 vom 30.08.2019 (S. 22)

Zum 90. Geburtstag: Der Publizist Paul Lendvai im Gespräch über den Zweiten Weltkrieg, Österreich und Peter Handke

Das ist der schönste Ort der Welt“, sagt Paul Lendvai und blickt auf den Altausseer See. Hier, in Altaussee im Salzkammergut, verbringt der Publizist und Moderator gemeinsam mit seiner Frau die Sommermonate. Lendvai, gebürtiger Ungar, lebt seit 1957 in Österreich. Für viele internationale und österreichische Medien beobachtete und bereiste er die Staaten Ost- und Südosteuropas. Im ORF tritt er regelmäßig als Moderator der Sendung „Europastudio“ auf und kommentiert auch häufig die österreichische Innenpolitik. Vergangene Woche feierte Lendvai seinen 90. Geburtstag. Sein aktuelles Buch, das im Juli erschienen ist, heißt „Verspielte Welt“. Es ist ein Rückblick auf Begegnungen und Ereignisse in Lendvais langer journalistischer Laufbahn. Mit dem Falter sprach er auch über die Zeit davor, den Zweiten Weltkrieg in Ungarn.

Falter: Herr Lendvai, als das Ibiza-Video veröffentlicht wurde, haben Sie gesagt, das sei einer der glücklichsten Tage Ihres Lebens gewesen. Warum?

Paul Lendvai: Das habe ich einer ungarischen Zeitung gesagt. Aber das ist lächerlich! Der glücklichste Tag in meinem Leben war, als ich 1945 befreit wurde. Und als ich 1953 aus dem Gefängnis kommen konnte. Aber es war ein glücklicher Tag, das stimmt. Ich habe mehr als 60 Jahre meines Lebens in Österreich gearbeitet und gelebt. Mit jeder Faser meines Herzens hänge ich an diesem Land. Ungarn ist ein alter Verwandter, aber meine Liebe ist in Österreich, nur zu Österreich.

Dann gehen wir doch zurück und beginnen mit der Zeit vor Ihrer Befreiung. Wie haben Sie die Jahre zwischen 1939, da waren Sie zehn Jahre alt, und 1945 erlebt?

Lendvai: Es war eine Zeit der Unsicherheit und der Angst. Ich wusste nicht, ob ich überhaupt in ein Gymnasium gehen durfte, weil ich Jude bin. Schon 1939 war das in Ungarn so. Da war Protektion notwendig. Der Schwager meines Onkels, der kein Jude war, hat mir geholfen.

1939 war Ungarn noch ein Königreich mit dem Reichsverweser Miklós Horthy als Staatsoberhaupt, der autoritär regierte, und hatte sich dem faschistischen Italien und dem nationalsozialistischen Deutschland angenähert. 1944 besetzte die Wehrmacht Ungarn.

Lendvai: Das war am 19. März 1944. Die Deutschen sind einmarschiert und Horthy setzte eine pronazistische Regierung ein. Als Juden wurden wir sofort wie Aussätzige behandelt: Wir wurden aus der Schule geworfen, mussten einen gelben Stern tragen. Ich war ein sehr stolzer Ungar und in den ersten Kriegsjahren habe ich mich sogar gefreut, dass Ungarn Gebiete erobert hat, die es 1920 verloren hatte. Und dann wurde ich aus dieser Gemeinschaft ausgeschlossen. Aber ich war damals 15 und habe keine bleibenden Schäden davongetragen. Wenn man sehr jung ist, bewältigt man das viel besser als ältere Menschen.

Sie spielen auf den Vertrag von Trianon an, Ungarn verlor damals 70 Prozent seines Staatsgebietes.

Lendvai: Und nach 1939 änderte sich das: Die Südslowakei kam wieder dazu, wo mein Onkel gelebt hat, oder Siebenbürgen, wo meine Großeltern gelebt haben. Auch sie haben die ungarische Armee begeistert begrüßt. Meine Familie war Teil des assimilierten Judentums. Sie haben sich als Ungarn gefühlt. 1944 sind sie nach Auschwitz deportiert und ermordet worden.

Auch Sie wurden 1944 verschleppt. Von den Pfeilkreuzlern, wie die Nationalsozialisten in Ungarn hießen, die im Oktober 1944 an die Macht gekommen waren.

Lendvai: Wir mussten zuerst in eines der fast 2000 mit gelbem Stern gekennzeichneten Häuser in Budapest übersiedeln. Dann wurde ich und später auch mein Vater verschleppt. Obwohl laut den Nazi-Gesetzen nur Menschen ab 16 verschleppt werden durften. Ich war erst 15. Meine Mutter hat das meinem Vater nie verziehen, dass er da versagt hat. Aber was kann man machen, wenn jemand mit dem Gewehr kommt und dich mitnimmt? Ich hatte großes Glück. Der Sohn unseres Hausbesitzers wurde auch abgeholt und der hat die Hausbesorgerin beauftragt, sein Kind wiederzufinden. Sie hat uns die Flucht ermöglicht, weil sie die Bewacher abgelenkt hat. So wurde ich vor dem Todesmarsch nach Österreich gerettet.

Wie haben Sie die letzten Kriegsmonate überlebt?

Lendvai: In Budapest gab es sogenannte Schutzhäuser von der Schweiz, Schweden oder dem Vatikan. Es wurden Schutzpässe für die jeweiligen Länder vergeben, ich weiß nicht, ob unserer echt war, es wurden so viele gefälscht, aber wir waren in einem Schweizer Schutzhaus. Das war natürlich ein sehr fragiler Schutz, weil die Leute trotzdem oft geholt und erschossen wurden. Am 13. Jänner 1945 wurden wir befreit.

Sie sagen immer, dass Sie nach der braunen die rote Diktatur erlebt haben. Wie hat dieser Übergang in Ungarn stattgefunden?

Lendvai: Ungarn war zwischen 1945 und 1947 eine Demokratie, nicht perfekt, aber frei. Die wurde von den Kommunisten untergraben, die Agenten Moskaus waren. Mein Vater ließ die ganze Familie bei der sozialdemokratischen Partei einschreiben. So wurde ich im Februar 1945 mit 16 Jahren Parteimitglied. Während meiner Schul- und Studienzeit habe ich Vorträge gehalten, war Agitprop-Sekretär und Schüler eines der interessantesten Intellektuellen Ungarns, Paul Justus. Dieser Mann war der Kopf der Linken in der Sozialdemokratie, die Kommunisten betrachteten ihn als Trotzkisten. Dann wurde die Sozialdemokratische mit der Kommunistischen Partei zwangsvereinigt. Ich Dummkopf war auch dafür und habe damit tatkräftig mitgeholfen, dass die Sozialdemokratie umgebracht wurde.

Trotzdem waren Sie den Kommunisten verdächtig.

Lendvai: Ich wurde mit 19 außenpolitischer Redakteur einer kommunistischen Zeitung. Und habe einen politischen Fehler gemacht. In einem Artikel habe ich den Finanzminister als Außenminister bezeichnet. Es war ein Artikel, den ich meiner zukünftigen Frau diktiert habe, und ich habe lieber auf ihren Busen als auf die genauen Daten geachtet. Da wurde ich dann gemeinsam mit anderen rausgeschmissen. Das war ein Vorwand, um Leute, die nicht so linientreu waren oder eine „verdächtige“ Vergangenheit hatten, zu entfernen. Ich war ja kein Kommunist und noch dazu Justus’ Schüler. Aber es war eine unglaubliche Ohrfeige, die größte nach dem gelben Stern.

Durften Sie weiter journalistisch arbeiten?

Lendvai: Ich kam zur Nachrichtenagentur MTI. Und dort musste ich von vorn wieder beginnen. Ich sollte lernen, wie man sich als richtiger Kommunist zu benehmen hat. Ich musste dann trotzdem zum Präsenzdienst, Anfang 1953 wurde ich verhaftet.

Warum?

Lendvai: Man warf mir vor, obwohl ich nie eine Zeile von Trotzki gelesen habe, ein Trotzkist zu sein. Damals war Hochbetrieb in den Gefängnissen, ich war mit drei anderen gemeinsam in einer Zelle. Mehrere Monate lang wurde ich verhört, dann in ein Internierungslager in der Nähe von Budapest verlegt.

Wann kamen Sie frei?

Lendvai: Nach der Untersuchungshaft dachte ich mir, dass ich für ein paar Jahre im Gefängnis sein würde. Aber dann starb Stalin, zur richtigen Zeit kamen Imre Nagy und seine Reformregierung an die Macht. Nach acht Monaten wurde ich im September freigelassen.

Wie haben Sie die Zeit im Lager erlebt?

Lendvai: Verglichen mit der Untersuchungshaft war es großartig. Ich habe sehr interessante Leute getroffen.

Politische Gefangene?

Lendvai: Ja. Nur Menschen, die nichts gemacht haben. Zuhause habe ich dann wieder eine kleine Überraschung erlebt. Meine Frau hatte in der Zwischenzeit ein Verhältnis angefangen. Jeder, den man in diesen Ländern verhaftet hat, wurde sofort abgeschrieben. Dann warst du tot.

Konnten Sie zurück in die Redaktion?

Lendvai: Drei Jahre hatte ich Berufsverbot, das war wahrscheinlich die schlimmste Zeit meines Lebens. Als Soldat musste mich die Nachrichtenagentur zwar zurücknehmen, aber nach einem Monat haben sie gesagt, dass ich meine Aufgabe nicht erfüllen könne, ich sei nicht geeignet. Danach habe ich von Übersetzungen gelebt, meine Frau verlassen, bin ins Haus meiner Eltern zurückgekehrt und kämpfte um die Rehabilitierung. Das geschah dann im Sommer 1956.

1956 fand auch der Aufstand in Budapest statt.

Lendvai: Ich bekam einen Job bei einer anderen Zeitung in Budapest. An meinem ersten Arbeitstag begann der Aufstand. Das war am 23.10.1956.

Wie haben Sie reagiert?

Lendvai: Ich habe gewartet. Ich wohnte neben der Kilian-Kaserne, die schwer umkämpft war, und habe versucht, Freunde zu erreichen. Die Telefone waren komischerweise die ganze Zeit in Betrieb. Ich war nicht mittendrin, habe nicht mit der Waffe gekämpft. So wie die meisten Ungarn. Obwohl viele ungarische Flüchtlinge danach behauptet haben, sie wären Widerstandskämpfer gewesen.

Bald danach sind Sie nach Wien gekommen, im Jahr 1957.

Lendvai: Mir wurde nach dem Aufstand 1956 klar, dass keine Reform kommen würde, sondern eine Abrechnung mit allen. Auf meiner ersten Auslandsreise als Journalist, nach Warschau, beschloss ich, nicht mehr nach Ungarn zurückzukehren. Ich hatte einen Reisepass und flog über Prag nach Wien. Mit einem langen, gebrauchten Wintermantel und einem Koffer, den ich zurückschicken musste, kam ich am
4. Feber 1957 an. Außer Hugo Portisch und dem Historiker Adam Wandruszka habe ich niemanden gekannt.

Wie haben Sie sich in Wien zurechtgefunden?

Lendvai: Ich wollte offiziell um Asyl ansuchen und bin zur Fremdenpolizei gegangen. Da hat man mich verhaftet. Sie wollten meine Angaben kontrollieren und deshalb habe ich eine Nacht in der Rossauer Lände verbracht. Am nächsten Tag hat sich der Direktor des Hauses entschuldigt und ich wurde freigelassen. Aber es war für mich ein unglaubliches Erlebnis, einen Tag in einem Gefängnis zu sein, wo man Zeitungen und Schokolade kaufen konnte. Es schien mir ein Paradies zu sein. Ab da lebte ich in Wien. 1959 wurde ich österreichischer Staatsbürger.

Dann sind Sie als Korrespondent nach Osteuropa zurückgegangen. Wie war das möglich?

Lendvai: 1962 hat mich die Financial Times nach Posen auf eine Messe geschickt. Das war meine erste Ostreise. Mit dem österreichischen Pass war das kein Problem und niemand wusste, wer ich war. 1966 wurde mir dann das Visum von den osteuropäischen Staaten verweigert. Zu dieser Zeit hat man mich schon beschattet und Material über mich gesammelt.

Da wusste man dann, wer Sie wirklich waren?

Lendvai: Ja, und dass ich für die Financial Times und die Tat in der Schweiz und die Presse in Wien schreibe. Der ungarische Innenminister hat an alle Innenminister des Ostblocks geschrieben. Ich sei der beste Analytiker und ein besonders gefährlicher Ostkorrespondent – eine große Anerkennung, nicht wahr? Diesen Brief hab ich später im Stasi-Archiv gefunden. So wurde ich dann „Balkan-Experte“, weil nach Rumänien und Jugoslawien durfte ich immer reisen.

Ein Kapitel in Ihrem Buch bezüglich Jugoslawien handelt von der Verbindung des Schriftstellers Peter Handke mit dem serbischen Machthaber Slobodan Milošević. Handke hat sich über viele Jahre hinweg Milošević angedient, ihn immer wieder verteidigt, die Verbrechen, die Serben im Krieg begangen haben, immer wieder negiert. Man könnte das als Randnotiz der Geschichte behandeln, verglichen mit anderen politischen Ereignissen der vergangenen Jahrzehnte. Sie haben dem sehr viel Raum gegeben. Warum?

Lendvai: Weil ich den „Verrat der Intellektuellen“, nach Julien Bendas Buch aus dem Jahr 1927, hasse. Der Verrat der Intellektuellen war immer eine Begleiterscheinung totalitärer Regime. Und dass ein so großer Schriftsteller nach dem Inferno des Ersten und Zweiten Weltkriegs, dass ein so begabter Schriftsteller – ich werde „Wunschloses Unglück“ nie vergessen – sich dafür hergibt, ist unglaublich.

Er hat ja sogar eine Rede bei Miloševićs Begräbnis gehalten.

Lendvai: Und man würde glauben, dass er aus der dadurch ausgelösten Empörung etwas gelernt hat. Aber nein. Er unterstützte danach sogar den serbischen Politiker Tomislav Nikolić, einen üblen Rassisten, der dann auch Präsident Serbiens geworden ist. Vor wenigen Monaten, als diese Tragödie mit Notre-Dame passiert ist, gab Handke der Zeit ein Interview, kommt wieder auf Milošević und rechtfertigt ohne Not all das, was er über ihn und Serbien gesagt hat. Handke ist ein tabuisiertes Thema. Kein Mensch redet darüber. Das, was er gemacht hat, war eine Hilfeleistung für ein übles rassistisches Regime. Das verzeihe ich ihm nicht. Viele serbische Schriftsteller haben sich gegen ihn gewehrt, ich zitiere sie auch. Im letzten Augenblick, bevor das Buch erschienen ist, auch noch ein ganz junger, der in Wien lebt ...

... Marko Dinić, er hat gerade einen Roman über seine Heimat Serbien veröffentlicht.

Lendvai: Diese Schriftsteller haben das Recht, Handke zu verurteilen. Sie sind es, die Recht haben. Ich habe aus Handkes Biografie gelernt, wie tief er das alles persönlich rechtfertigt. Im Prinzip geht es um seine Mutter, die als Slowenin unter schwierigsten Bedingungen in Kärnten gelebt hat, und um seinen Vater und Stiefvater, die Soldaten der Wehrmacht waren. Und dann verkaufen die Slowenen, nach Ansicht Handkes, die Idee Jugoslawien und erklären sich 1991 für unabhängig. Er transponiert eine persönliche Krisensituation in die Politik Mitteleuropas. Ich hab mir gedacht, dass es vielleicht meine Aufgabe ist, darüber zu schreiben.

Wie haben Sie Jugoslawien als Journalist wahrgenommen?

Lendvai: Mir ist die jugoslawische Tragödie sehr, sehr wichtig. Ich habe an dieses Experiment geglaubt und 1960 meine ersten Artikel darüber geschrieben. Das waren begeisterte Texte. Erst langsam bin ich draufgekommen, dass der Titoismus und Jugoslawien eine Chimäre sind. Nichts ist schlimmer als Nationalismus, Chauvinismus und Völkermord.

Kommen wir in die Gegenwart und zum Beginn des Interviews, zum Ibiza-Video, zurück. Wie haben Sie die türkis-blaue Regierung wahrgenommen?

Lendvai: Diese Regierung hat mich sehr, sehr beängstigt. Weil ich gesehen habe, welche Vorteile diese Entwicklung für die extreme Rechte und auch für Russland hat. Ich wurde einmal in der auflagenstärksten österreichischen Zeitung kritisiert, weil ich über die Bedeutung des Innenministeriums geschrieben habe. Ich habe Österreich nicht erwähnt, sondern nur gesagt, dass die Nazis und die Kommunisten das Innenministerium als einen Schlüssel, als einen Hebel zur Machtergreifung betrachtet haben. Und da wurde mir vorgeworfen, dass ich Strache und die FPÖ damit nicht vergleichen könne und so weiter. Dieselbe Zeitung hat vor kurzem mit mir ein großes Interview gemacht. Das zeigt den Wandel.

Sebastian Kurz wird von seinen Gegnern mit Viktor Orbán verglichen, man befürchtet, Österreich könnte sich in diese Richtung entwickeln. Wie sehen Sie das?

Lendvai: Das kann man nicht vergleichen. Orbán ist ein mit allen Wassern gewaschener, zynischer und raffinierter political operator. Und hochbegabt. Kurz ist ein ganz junger Politiker, ein Kommunikationsphänomen in dieser Hinsicht. Ich glaube nicht, dass er persönlich „gefährlich“ ist. Aber er ist sehr, sehr jung und er hat sich auf die Macht konzentriert. Er hat der ÖVP einen großen Erfolg gesichert. Aber es gibt die Bundesländer, es gibt verschiedene Politiker, ich glaube nicht, dass er eine Position der Allmacht hat.

Sie glauben, dass Österreich ausreichend starke demokratische Strukturen hat?

Lendvai: Ja. Dass die Präsidentin des Verfassungsgerichtshofs nun Bundeskanzlerin ist, ist symbolträchtig für mich. Oder dass ein jüdischer Jurist Vizekanzler und Justizminister ist, das ist für mich etwas unglaublich Positives. Auch, wie diese Regierung von den Medien und den Menschen akzeptiert wird. Und ich kann nicht glauben, dass dieses Land, das so viel durchgemacht hat – und ich habe das alles erlebt seit 1957 –, das alles aufs Spiel setzen würde. Aber die Gefahr besteht. Menschen sind bereit, für Ruhm, für Geld Dinge zu vergessen. Diese Gefahr besteht bei allen Parteien. Die größte Gefahr in Österreich ist für mich der Niedergang der Sozialdemokratie. Ich bin erschüttert.

Was hätte die SPÖ tun können, um das aufzuhalten?

Lendvai: Erstens das Führungspersonal anders auswählen. Die Leute in den Führungspositionen sind verantwortlich. Nehmen Sie diese Witzfigur in Tirol! Jeden Monat sagt dieser Mann etwas Unglaubliches. Nur weil er jung ist und gut ausschaut, darf er sich das erlauben? Jugend ist keine Berechtigung und kein Reisepass zur politischen Karriere.

Besonders im Wahlkampf fällt auf, in welch schlechtem Zustand die Debattenkultur hierzulande ist. In Ihrem Buch beschreiben Sie etwa Václav Klaus: „Für ihn gab es immer nur zwei Meinungen, die richtige und die falsche. Und er machte nie einen Hehl daraus, dass immer nur seine Meinung die richtige sein konnte.“ Ist das heute so?

Lendvai: Nein, wir sind heute nicht in der Schule von Václav Klaus. Das größte Problem der Debattenkultur ist die Unabhängigkeit der handelnden Personen. Da gab es Gefahren. Die Anziehungskraft von Sebastian Kurz zum Beispiel. Oder heute das Gefühl für Proportionen. Man wirft der SPÖ-Chefin Rendi-Wagner ihren Aufenthalt in einem Lokal in St. Tropez vor. Solche Heuchelei ist unerträglich! Auch wenn man sagen muss, dass es eine Frage der politischen Klugheit ist, ob man im Wahlkampf so ein Lokal besucht. Aber es sind lächerliche Sachen. Zur Debattenkultur gehört, dass man eine innere Unabhängigkeit hat. Man kann nicht alles sagen, aber das, was man unbedingt sagen muss, das muss ausgesprochen werden. Ich glaube, das ist die Grundbedingung. Man muss immer alles infrage stellen. Man muss die innere Freiheit haben, Fragen aufzuwerfen. Nicht die Antworten, sondern die Fragen.

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