
Nehammers selektiver Blick zurück
Barbaba Tóth in FALTER 43/2025 vom 22.10.2025 (S. 20)
Jetzt also auch Karl Nehammer. Der Ex-ÖVP-Chef und Kanzler (2021-2025) hatte bei seinem Abgang zwar gelobt, sich nicht mehr einzumischen und kein "Muppet" sein zu wollen, aber er muss wohl im selben Moment an seinem Buch zu arbeiten angefangen haben. Sonst wäre es zehn Monate wohl kaum schon am Markt.
Es ist ein solider Schnellschuss, den Nehammer mit Hilfe des erfahrenen politischen Publizisten Peter Pelinka fabriziert hat. Unangenehmes, wie seine wenig glorreiche Schul-und Studienkarriere, spart Nehammer aus, dadurch gerät das "Wie ich wurde, was ich bin"-Kapitel ein wenig dünn. Dafür lässt er uns noch einmal hinter die Kulissen seines Besuches beim russischen Präsidenten Wladimir Putin kurz nach dessen Überfall auf die Ukraine blicken und rekonstruiert die Begegnung mit dem Autokraten als auch psychologisch dichtes Porträt.
Ebenso anschaulich ist Nehammers Blick auf FPÖ-Chef Herbert Kickl. Beklemmend, wie er schildert, wie zynisch Kickl auf seinen Anruf reagiert hatte, als er ihn 2022 darüber informierte, dass russische Truppen in der Nacht in der Ukraine einmarschiert sind. Kickl bezweifelte Nehammers Quellen.
Ein wenig wehleidig gerät die Bilanz der Pandemie und Wirtschaftskrise. Hier sind es am Ende die Experten, die falsch beraten habe. Nicht die Politik, die zu wenig mutig entschieden hätte. Dafür lesen sich Nehammers Gedanken zur Neutralität sehr viel offener. Hier erzählt er anschaulich, wie schwierig es für ihn als Kanzler des neutralen Österreich war, nach 2022 in Europa Verständnis für die Sonderrolle zu bekommen. Paradoxerweise war es Nehammer, der die damals aufkeimende Neutralitätsdebatte sofort abwürgte. Wer ihn dazu jetzt liest, denkt sich: Wäre nicht gerade er, vom Beruf und Mindset am Ende immer Soldat, prädestiniert dafür gewesen, Österreichs Bevölkerung davon zu überzeugen, dass Neutralität nicht gleich Sicherheit bedeutet und wir uns weiterentwickeln müssen?


