
Ein Virtuose der Verliebtheit und Phänomenologe der Verpeiltheit
Klaus Nüchtern in FALTER 39/2018 vom 26.09.2018 (S. 31)
Wie streng der bereits von seiner schweren Krankheit gezeichnete Wolfgang Herrndorf mit dem eigenen Werk verfuhr, konnte man schon dem postum in Buchform erschienenen Blog „Arbeit und Struktur“ entnehmen. Vor seinem Suizid im August 2013 verfügte der damals 48-Jährige, was auf keinen Fall veröffentlicht werden dürfe. Daran haben sich Marcus Gärtner und Cornelius Reiber gehalten und in dem soeben erschienenen Band Jugendgedichte, ein rechtschaffen durchgeknalltes Dramolett, vor allem aber Beiträge versammelt, die Herrndorf von 2001 bis zu seinem Tod im Internetforum „Wir höflichen Paparazzi“ veröffentlichte.
Unter mehreren Pseudonymen war „Stimmen“ das von Herrndorf am häufigsten gebrauchte und so ist auch die vorliegende Kompilation betitelt. Sie enthält zwar nicht ausschließlich literarische Kleinodien, aber auch nichts, was peinlich nach Restlverwertung röche. Zwischen Phlegma und nonchalanter Schnoddrigkeit liefert Herrndorf lesenswerte Beiträge zu einer Phänomenologie der Verpeiltheit, erzählt von einem unfreiwilligen Puffbesuch im Zustand der Volltrunkenheit, einer kaum wesentlich nüchterner unternommenen nächtlichen Radfahrt durch einen sehr finsteren Wald oder davon, wie ihm eine völlig fremde junge Frau das Klo versaut. Außerdem gibt es einige ebenso knappe wie kluge und lässige Anmerkungen zur Unfehlbarkeit des Unterbewussten oder die Überflüssigkeit literarischer Manifeste.
Am überzeugendsten aber ist Herrndorf, wenn er gar nicht erst versucht aufzudrehen. Die vierzeiligen Kreuzreimstrophen der Gedichte mit viel Mond sind konventionell in Machart und Sujet, aber gerade in ihrer lapidaren Schlichtheit mitunter zum Weinen schön. Das Gleiche gilt für die Prosatexte, in denen sich dieser enthusiastische Mädchengutfinder von Bubenbeinen an seiner Kinder- und Jugendlieben erinnert – etwa an die fünfjährige Katharina. „Wir zerdrückten Erdklumpen mit Stöcken und schütteten einen Kaninchenbau zu. Der Himmel war von Licht gesprenkelt, die Bäume waren hoch, die Felder gelb. Das war jeden Tag so, es änderte sich nie.“ Hammer!


