

Ein ewiger Pessimist und Zweifler
Alfred Pfoser in FALTER 28/2024 vom 10.07.2024 (S. 28)
Was ist Goethe für uns heute? Thomas Steinfeld, früher Literaturchef der FAZ, dann Feuilleton-Leiter der Süddeutschen Zeitung, versucht, eine Antwort zu geben, indem er die so unendlich produktive Zentralgestalt der deutschen Literatur in einer voluminösen, gut lesbaren Biografie neu fasst. Er beschreibt einen Konservativen, für den der einzelne Mensch im Mittelpunkt stand, dem die Wunder der Natur, Kunst und Wissenschaft offenbaren sollten.
Die Kunst des geglückten Lebens stand allerdings in Dauerspannung mit der Zeit, in der der Dichter lebte. Der Verlauf vom Ausbruch der Französischen Revolution über den Wiener Kongress bis zu Goethes Tod 1832 brachte heftigste Turbulenzen mit sich. Überdies ließen Goethes Ämter nicht zu, dass er sich den Zumutungen der Politik entzog, auch wenn er sich nicht in ihren Strudel reißen ließ. Die demokratischen Prinzipien der neuen Zeit, Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, blieben ihm fremd. Die Moden der Intellektuellen, den deutschen Nationalismus und die antinapoleonische Kriegsbegeisterung verachtete er.
Wie er politische Zwangslagen meisterte, beschrieb er in der "Campagne in Frankreich". Als Goethe 1792 an der Seite seines Freundes, des Herzogs August Ulrich von Sachsen-Weimar-Eisenach, am preußisch-österreichischen Krieg gegen das revolutionäre Frankreich teilnahm, verweigerte er beim Anblick von Tod, Dreck, Hunger und Elend jede Anteilnahme und zog sich auf Naturforschungen zurück.
Steinfeld arbeitet systematisch heraus, wie ein mephistophelischer Zweifel die Basis von Goethes Denken bildet. Schon der "Werther" enthüllte die Liebe als selbstmörderisches Unternehmen und ließ Goethes Pessimismus sichtbar werden, erst recht der Roman "Wahlverwandtschaften" und "Faust II": "Was soll uns denn das ewige Schaffen, Geschaffenes zu nichts hinwegzuraffen?" Im Alterswerk kamen Trauer, Einsamkeit und Entsagung noch mehr an die Oberfläche.