

Wer ist ein Mensch?
Stefanie Panzenböck in FALTER 19/2024 vom 10.05.2024 (S. 37)
Der Titel ist eine Verniedlichung. Im neuen Roman des schlesischen Schriftstellers Szczepan Twardoch herrscht durchdringende Eiseskälte. Einerseits ist dies den Schauplätzen der Geschichte geschuldet, die sich in Russland nördlich des Polarkeises befinden. Andererseits geht es um die Verrohung der Menschen, die durch Krieg, Lagerhaft, Hunger und Angst für die, die mit ihnen leben, keine Zuneigung mehr aufbringen können.
Im Gegenteil. Der eine wird zum Kannibalen, der andere zum Proviant auf zwei Beinen, wenn es keine Nahrung mehr gibt. Wieder und wieder fragt sich die Hauptfigur Konrad Widuch: "Bin ich ein Mensch?"
Für "Kälte" schafft Twardoch eine zweite Zeitebene in der Gegenwart. Ein Schriftsteller, der denselben Namen trägt wie er, fährt im Jahr 2019 nach Spitzbergen und trifft in einem Hotel in der ehemaligen Bergarbeiterstadt Pyramiden auf eine ältere Frau. Sie ist seit Jahrzehnten mit ihrer Segeljacht auf den Meeren unterwegs und fragt den jungen Mann, ob er mitkommen wolle.
Auf dieser Reise drückt sie ihm zwei Notizbücher in die Hand. Sie stammen von einem gewissen Konrad Widuch, der aus demselben schlesischen Ort wie Twardoch stammt. Ein Zufall? Widuch, Ende des 19. Jahrhunderts geboren, diente in der Armee von Kaiser Wilhelm II., war 1918 am Aufstand der Kieler Matrosen beteiligt und Mitglied im Spartakusbund. Sein Ziel: die kommunistische Weltrevolution.
Widuch geht nach Russland, um für den Bolschewismus zu kämpfen. Mitten im Bürgerkrieg lernt er Sofie Moen, ebenfalls eine überzeugte Kommunistin, kennen. Doch dann wendet sich Stalin gegen die alten Bolschewiken. Sofie und Konrad ziehen zuerst nach Murmansk, sie flüchtet mit den Kindern übers Meer Richtung Finnland. Er bleibt und wird verhaftet. Nach Verhör und Folter kommt Widuch ins Lager, an einen Ort, dessen Namen er nicht nennen will, wie er immer wieder betont.
Und sagt ihn dann doch: Dalstroi, einer der größten Lagerkomplexe der Sowjetunion im Nordosten Sibiriens. Widuch kann flüchten und irrt durch die Eiswüste. Der nächste Ort, an dem er leben wird, ist Cholod, bewohnt von einer Volksgruppe, die bisher unentdeckt geblieben ist. Auch von der Sowjetmacht.
Detailliert lässt Twardoch Widuch die Grausamkeiten und Perversionen schildern, die er entweder selbst begeht, sieht oder rächt. Die Sprache wirkt dabei abgestumpft, distanziert von jeglicher menschlicher Regung, fast flapsig.
Twardoch, der sich für die Ukraine im Krieg gegen Russland engagiert und unter anderem Drohnen ins Land bringt, hat mit "Kälte" auch eine Parabel auf die Gegenwart vorgelegt. Russlands Angriff auf die Ukraine und die Bedrohung, die Putin für Europa darstellt, ist die Projektionsfläche des Romans. Widuch sagt in Cholod: "Denn wenn Russland kommt, dann kann eine Siedlung allein sich nicht verteidigen, ihr bleibt nur die Flucht. Ihr seid nur so lange sicher, wie Russland nichts von euch weiß."
Mit "Kälte" hat Szczepan Twardoch einen weiteren großen europäischen Roman geschrieben. Diesmal mit einer expliziten politischen Botschaft.