

Warum tun Menschen das?
Erich Klein in FALTER 42/2024 vom 18.10.2024 (S. 32)
Der Brite Richard Overy ist ein Großer seines Fachs. Schon früh erklärte der Historiker als Spezialist für den Deutsch-Sowjetischen Krieg „Die Wurzeln des Sieges“ der Alliierten mit deren wirtschaftlicher Überlegenheit über Nazi-Deutschland. Es folgten monumentale Studien über Stalins und Hitlers Diktaturen: Europa als Schlachtfeld des Zweiten Weltkrieges stand im Zentrum von „Der Bombenkrieg“, „Weltenbrand“ beschrieb die globale Kriegsgeschichte zwischen 1931 und 1945.
Die Bücher entstanden zu einer Zeit, als noch das „Ende der Geschichte“ beschworen wurde – trotz zahlreicher Stellvertreterkriege seit 1945 hatten die Großmächte keinen Krieg mehr geführt, der Kalte Krieg schien zu Ende. Dass ein möglicher ewiger Friede zur ewigen Friedhofsruhe würde, wie Immanuel Kant gescherzt hatte, war ohnedies nicht zu befürchten. Richard Overys neues Buch „Warum Krieg?“ ist eine Art Resümee seiner historischen Aufarbeitung der Katastrophengeschichte des 20. Jahrhunderts samt Ausblick auf viel größere Fragen.
Obwohl es im vergangenen Jahrhundert kein einziges Jahr gab, in dem nicht Krieg geführt wurde, befasse sich die Geschichtswissenschaft selten mit der Frage, warum Menschen Kriege führen. Deren Beantwortung überlasse sie anderen Wissenschaften wie Biologie, Psychologie oder Anthropologie. Und: „Die Frage nach den Ursprüngen des Krieges wurde teilweise selbst zu einem regelrechten akademischen Schlachtfeld.“ Symptomatisch dafür sei der auf Initiative des Völkerbundes entstandene Briefwechsel „Warum Krieg?“ zwischen Albert Einstein und Sigmund Freud aus dem Jahr 1932. Die Antwort des Begründers der Psychoanalyse – Gewaltanwendung sei ein Merkmal des gesamten Tierreichs, die Menschheit eingeschlossen, der menschliche Kampf- und Zerstörungstrieb sei einfach nicht zu bremsen – machte den Physiker ratlos.
Im ersten Teil des Buchs begibt sich Richard Overy „dilettierend“, wie er selbst sagt, aber um Sachlichkeit bemüht zu den Naturwissenschaften, die über mehr „Evidenz“ als die Historie verfügten. Beginnend mit dem „gefährlichsten Teil unseres Erbes“, der Biologie. In den 1930er-Jahren propagierte der britische Anatom Sir Arthur Keith kruden Sozialdarwinismus: Die Idee, Krieg sei unter biologischen Gesichtspunkten nützlich, weil die Gemeinschaften auf diese Weise die Schwachen ausmerzen und die Starken fördern könnten, stößt nach 1945 weitgehend auf Ablehnung. Über Konrad Lorenz’ Konzept vom „sogenannten Bösen“, das in der evolutionären Vergangenheit wurzle, führe das Geschwätz diverser Evolutionsbiologen herauf bis in die Gegenwart.
Overy spielt sich nicht als Zensor auf, im Fall der Psychologie geht er den Verästelungen von „Friedenspsychologie“ bis zur Evolutionspsychologie und der Erforschung von Langzeitfolgen der Kriege nach. Am Beispiel französischer Katholiken und protestantischer Hugenotten, von Hutus und Tutsis und der Vernichtung von Juden und Slawen im NS-Staat exemplifiziert er die Entwicklung des rabiaten Freund-Feind-Schemas, wie vom Nazi-Juristen Carl Schmitt entworfen. Auch die Ökologen beteiligten sich an der Erforschung von Kriegsursachen – sei es durch Beschreibung von Dürreperioden oder besonders harter Winter, die etwa in der tausendjährigen Geschichte Chinas Kriege nachweislich begünstigten.
In den Kapiteln über Ressourcen, Macht, Sicherheit und Religion findet sich Overy auf seinem ureigenen Terrain: bei Kriegen um Ressourcen im alten Sintascha im Uralgebiet, bei den Kriegen zwischen Karthago und Rom, gegen die amerikanischen Ureinwohner, in Nazi-Deutschland und in Putins Russland. Die Kreuzzüge stehen am Ende für den Ursprung der modernen Dschihadisten. „Krieg hat in der Menschheit eine lange Geschichte – und leider auch eine Zukunft“, heißt es zuletzt. Die Aussicht auf Frieden sei gering, aber man könne zumindest Muster erkennen.