

Wie Teenager auf Tiktok zu Dschihadisten werden
Soraya Pechtl in FALTER 39/2024 vom 27.09.2024 (S. 23)
In Wien plante ein 19-jähriger Österreicher einen Anschlag auf ein Taylor-Swift-Konzert. Im deutschen Solingen tötete ein 26-jähriger Syrer drei Menschen mit einem Messer. In München wollte ein 27-jähriger Syrer Soldaten mit einer Machete töten. Ein 18-jähriger Österreicher schoss in der Nähe des israelischen Konsulats in der bayerischen Hauptstadt um sich. All diese Fälle ereigneten sich innerhalb weniger Wochen. Und alle haben einen Bezug zum Islamischen Staat (IS).
Laut Terrorismusforscher Peter Neumann ist das kein Zufall. Er spricht in seinem neuen Buch "Die Rückkehr des Terrors" von einer neuen Welle islamistischer Gewalttaten. Ausgelöst wurden sie durch das Massaker der Hamas am 7. Oktober in Israel. In den acht Monaten danach sei es in Europa zu 30 islamistisch motivierten Anschlägen oder Anschlagsversuchen gekommen. Das sind mehr als viermal so viele wie im gesamten Jahr 2022.
Eine profunde Analyse aktueller Ereignisse hat Neumann zu Papier gebracht. Schritt für Schritt skizziert der Professor für Sicherheitsstudien am Londoner King's College, wie Terrorwellen entstehen. Am Anfang steht ein einschneidendes Ereignis, das den Zyklus in Gang setzt und den Terroristen Zulauf verschafft. 9/11, der Krieg in Syrien und zuletzt der 7. Oktober sowie der darauf folgende Krieg in Gaza.
Die israelkritische Protestbewegung habe dadurch einen Aufschwung erlebt. Linksextreme, die Israel als Apartheidstaat bezeichnen und "Gewalt zu seiner Bekämpfung rechtfertigen", würden den "Dschihadisten in die Hände spielen", schreibt Neumann.
Die terroristische Bedrohung kommt aber nicht von Linksextremisten. Neumann macht drei Hauptakteure aus.
Erstens: den Islamischen Staat in der Provinz Chorasan (ISPK). Noch vor vier Jahren glaubten die USA, den Islamischen Staat besiegt zu haben. Aber ein Ableger in der zentralasiatischen Provinz Chorasan -heute Teil des Iran und Afghanistans -erstarkte nach dem chaotischen Abzug der US-Truppen aus Afghanistan und baute ein global agierendes Netz auf, das Teenager-Terroristen im Internet rekrutiert. Dort findet sich die zweite Gruppe.
Zweitens: junge Tiktok-Dschihadisten. Zwei Drittel der Anschläge der vergangenen Monate haben Teenager begangen oder geplant. Manche waren noch keine 14 Jahre alt. Viele radikalisierten sich auf Tiktok und Telegram.
Drittens: den staatlich gesponserten Dschihadismus des Iran. Seit 2018 haben die iranischen Revolutionsgarden mindestens elf Anschläge in Europa verübt, analysiert Neumann. Acht davon zielten auf jüdische Einrichtungen ab. Neumann sieht vor allem jüdisches Leben in Europa durch die neue Terrorwelle bedroht. Insgesamt richtete sich ein Drittel der Anschläge im vergangenen Jahr gegen Juden und Jüdinnen.
Und was nun weiter? Welche Maßnahmen sollen EU-Staaten ergreifen, um den Terror einzudämmen? Neumann warnt vor überschießenden Reaktionen. "Starke Maßnahmen" würden im schlimmsten Fall zur Radikalisierung beitragen. "Repression sollte stets gezielt und lösungsorientiert sein", schreibt der Wissenschaftler. Bei IS-Mitgliedern sieht er Abschiebungen und strengere Einreisekontrollen als mögliche Antworten. Zusätzlich müsse die Präventionsarbeit ausgebaut werden.
Bleibt zu hoffen, dass die Verantwortlichen in Europa Neumanns kluge Analyse lesen, bevor der nächste Anschlag verübt wird. Oder Rechtspopulisten an die Macht kommen.