

Auf dem Weg zu Big Data zerfällt die Wahrheit
Ulrich Rüdenauer in FALTER 42/2021 vom 20.10.2021 (S. 38)
Medien: Byung-Chul Han reflektiert das Informationsregime und das Ende von verbindlichen „Tatsachen“
In seinem neuen Essay „Infokratie“ schreibt der 1959 in Seoul geborene Philosoph Byung-Chul Han ganz am Ende einen Satz, bei dem einem angst und bange wird: „Im totalitären Staat, der auf einer Totallüge aufgebaut ist, ist das Wahrsprechen ein revolutionärer Akt. (…) In der postfaktischen Informationsgesellschaft hingegen geht das Pathos der Wahrheit gänzlich ins Leere. (…) Die Wahrheit zerfällt zum Informationsstaub, der vom digitalen Wind verweht wird. Sie wird eine kurze Episode gewesen sein.“
Das klingt nicht zufällig wie ein Echo jenes berühmten Satzes von Michel Foucault, mit dem dieser einst dem Menschen nachgerufen hat. Der Mensch sei eine Erfindung, deren junges Datum die Archäologie unseres Denkens ganz offen zeige, schrieb Foucault, womöglich auch das baldige Ende. Dann könne man sehr wohl wetten, „dass der Mensch verschwindet wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand“.
Byung-Chul Han verabschiedet nicht den Menschen, sondern eine bestimmte Form des menschlichen Miteinanders, die sich mit der Demokratie entwickelt hatte: rationale Kommunikationsweisen, die auf Basis eines gemeinsam geteilten Wahrheitsgrundes zu Willensbildung führten. In der Informationsgesellschaft gebe es diesen gemeinsamen Boden der Tatsachen nicht mehr. Argumente würden durch Meinungen ersetzt, Informationen per Algorithmen und künstlicher Intelligenz über digitale Plattformen geteilt und verbreitet. So gingen Sinn und Ordnung verloren. Ein Informationsregime entstehe, das alle politischen Entscheidungen beeinflusse. „Im Gegensatz zum Disziplinarregime werden nicht Körper und Energien, sondern Informationen und Daten ausgebeutet.“
In klarer, pointierter Sprache lässt Han all die Schreckensszenarien einer schönen digitalen Big-Brother-Gesellschaft an uns vorbeiziehen. Das ist nicht neu. Aber in der suggestiven Zusammenstellung wird einem der Bruch mit unserer ehemals vertrauten Lebenswelt doch drastisch bewusst. Was Foucault als Disziplinarregime beschrieben hat – die Herrschenden setzen auf Überwachen und Strafen –, weicht nun einer ganz anderen Logik: „Im Informationsregime bemühen sich die Menschen von sich aus um Sichtbarkeit, während das Disziplinarregime sie ihnen aufzwingt.“ Die Konsequenz daraus: Die Menschen, so Han, legen sich selbst Fesseln an, indem sie fortwährend kommunizieren und Daten produzieren. Freiheit werde suggeriert, und doch seien wir gefangen in einer vermeintlichen Wohlfühlgesellschaft. Selbstverwirklichung sei aber nur ein anderes Wort für die Preisgabe jeglicher Intimität.
Han führt aus, welche politischen Folgen es hat, wenn narrative Strukturen durch das Numerische ersetzt werden: Big Data statt Diskurs. Politiker folgen nicht wertegeleiteten Idealen, sondern momenthaften Stimmungsbildern. Demokratie, so Han, werde zur Infokratie. Der Kommunikationsrausch halte die Menschen in einer neuen Unmündigkeit fest.
Rational handeln kann aber nur, wer innehält und einen gewissen Bezug zu Tatsachen wahrt. Wer ständig kommentiert und likt, wird schwer einen klaren Gedanken fassen können. Das freilich ist ein Einfallstor für Desinformation. Informationskriege haben wir schon bei den letzten Wahlen in den USA erlebt. Kaum lässt sich dabei mehr von Lügen sprechen: Realität wird einfach nicht mehr anerkannt. Filterblasen verstärken Effekte der Fragmentierung. Die Digitalisierung, so Han, beschleunige den Zerfall der Lebenswelt. Der Diskurs werde durch Glauben und Bekenntnis ersetzt, wer Gegenargumente liefere, werde nicht mehr als Diskurspartner akzeptiert, sondern als Feind verachtet. Byung-Chul Hans Buch ist dunkel und hellsichtig, eine ernüchternde Bestandsaufnahme der Entwicklung des digitalen Zeitalters, das so große Versprechen bereitzuhalten schien. Es ist ein deprimierendes Buch. Denn Auswege zeigt es nicht auf.