

Vom Leben in den Banlieues: Gold und daneben Blech
Christina Vettorazzi in FALTER 13/2024 vom 27.03.2024 (S. 28)
Ein Mann fährt mit seinem Rollstuhl rückwärts den Gehweg entlang, dreht um, fährt wieder retour. Er raucht und scheint tief in Gedanken versunken. Wahrscheinlich ist er auf Drogen. Neben ihm verläuft eine vierspurige Straße. Auf dem schmalen Streifen dazwischen sitzen drei Obdachlose.
Wieder daneben ragt eine Baustelle in den Himmel. Hier soll die neue Adidas-Arena gebaut werden. Diese Momentaufnahmen voller Widersprüche zeichnen den Roman "Bannmeilen" aus. Anne Weber, geboren 1964 im deutschen Offenbach und 2020 für "Annette, ein Heldinnenepos" mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet, beschreibt die Symptome von Klassismus und Rassismus im Frankreich der Gegenwart mit einer unaufgeregten Sprache, die das gesellschaftliche Problem kompakt erfasst: "Es liegt viel verstreuter Abfall herum; alles noch einigermaßen Brauchbare ist verschwunden."
Die Ich-Erzählerin nimmt die Olympischen Spiele, die 2024 in Paris stattfinden werden, als Anlass, um gemeinsam mit dem zweiten Protagonisten Thierry die Banlieues zu erkunden. Sie sind dort unterwegs, "wo niemand geht", und treffen dabei die schrägsten Gestalten. Ein Mann injiziert sich in einem Café den Rosé in den Bauch, statt ihn zu trinken. Die Spritze legt er ungeniert vor sich auf den Tresen. Der Barkeeper kennt das Prozedere offensichtlich schon. Er hebt ein imaginiertes Glas und prostet seinem Gast zu.
Die Erzählerin lebt wohlbehütet im Zentrum von Paris, Thierry ist in den Banlieues heimisch. Ihre Beobachtungen und Gespräche offenbaren die Scheinheiligkeit der wohlhabenden, weißen Retter. Etwa, wenn die Erzählerin überlegt, einem Bewohner der Vorstadt ihren alten Computer zu überlassen, und Thierry stattdessen ein Mittel zur Selbsthilfe vorschlägt, damit jener sich selbst ein neues Arbeitsgerät leisten kann.
So führt "Bannmeilen" durch die Pariser Vorstadt -und dabei vor allem die Innenstadtbewohner vor.