

Ansprache an ein ungeborenes Kind
Leopold Federmair in FALTER 42/2025 vom 15.10.2025 (S. 17)
Aube, die Protagonistin des Romans, ist 26 Jahre alt, lebt in der algerischen Stadt Oran und trägt ein „Lächeln“ unter dem Kinn. Lächeln unter Anführungszeichen. In der deutschen Übersetzung fehlen diese, dafür ist durchgehend von „Grinsen“ die Rede. Dabei handelt es sich um eine Narbe, die der jungen Frau nach einem Mordanschlag auf ihre Familie und ihr ganzes Dorf geblieben ist. Sie war damals fünf Jahre alt.
Im Algerien der 1990er-Jahre war das Durchschneiden von menschlichen Kehlen bei den selbsternannten „Gotteskriegern“ besonders beliebt. Deren politische Partei hatte Anfang 1992 die Parlamentswahlen gewonnen, diese wurden unverzüglich – unter dem Beifall der europäischen Öffentlichkeit – annulliert. Die Herrschaft der FLN, die drei Jahrzehnte zuvor die Unabhängigkeit von Frankreich erkämpft hatte, wurde durch den islamistischen Terror mit 200.000 Todesopfern nicht gebrochen, sie dauert bis heute an. 2019 entstand in Algerien eine junge, massenhafte und nicht religiös ausgerichtete Protestbewegung („Hirak“), die letztlich der Corona-Pandemie zum Opfer fiel.
Kamel Daoud, Autor von „Huris“, sympathisierte anfangs mit dem Hirak, distanzierte sich jedoch bald von diesem. Die wesentliche Aufgabe seines Romans sieht er darin, die Erinnerung an die schwarze Dekade zu sichern. Im Vorspann zitiert er eine Passage aus der „Charta zur nationalen Versöhnung“, die seit 2005 Gesetzeskraft hat. Die beiden Hauptfiguren, hinter denen ganz offensichtlich der Autor steht, sprechen beziehungsweise schreiben ein ums andere Mal gegen die Vorschrift des Vergessens an.
Nimmt man als Leser die Atmosphäre auf, die Daoud im Roman inszeniert, so gelangt man zu dem Schluss, dass im gegenwärtigen Algerien ein stilles Einverständnis zwischen Islamisten, islamischem Mainstream und dem Militärregime herrscht. Der die bürgerlichen Freiheiten beschränkende, politisch einflussreiche Islam hätte trotz der militärischen Niederlage nach dem schwarzen Jahrzehnt die Oberhand gewonnen.
Aube wirkt mit ihrem Schönheitssalon, den sie ausgerechnet gegenüber einer Moschee führt, ziemlich einsam. Keine Spur von Hirak, keine laizistische Jugend, die eine „neue Unabhängigkeit“ fordert, und überhaupt: keine Freunde. Nur ein paar Prostituierte oder Verrückte oder was immer sie sind, die sogleich von der Polizei abtransportiert werden. Der algerische Alltag ist bedrückend; der Roman wird der Wirklichkeit wohl einigermaßen entsprechen. Im Zentrum der Misere steht für Daoud die Unterdrückung der Frau, die unsichtbar und sprachlos bleiben soll.
Auch Aube will den Frauen eine Stimme verleihen, ist sie doch selbst stumm: Bei dem Attentat wurde sie zwar nicht getötet, der Gottesterrorist hat ihr aber die Stimmbänder durchtrennt. Kamel Daoud hat seine Protagonistin nach dem Vorbild einer realen Person gestaltet: Saâda Arbane, die bei seiner zweiten Ehefrau, einer Psychiaterin, in Behandlung war.
Arbane hatte den Autor allerdings lange vor der Publikation des Romans wissen lassen, dass sie eine Verwendung ihrer Geschichte, über deren Details er nur durch seine Frau Bescheid wissen konnte, nicht wünsche. In Algerien ist derzeit ein Rechtsstreit anhängig.
Daoud wurde 2024 (als erster Algerier) für den Roman mit dem Prix Goncourt ausgezeichnet. Ein bekannter Kritiker bezeichnete „Huris“ als „feministischen Roman“. Dass dies zutrifft, ist aus mehreren Gründen zweifelhaft.
Die Konstruktion des Romans ist fragmentarisch, oft auch inkohärent. Die Grundhaltung der Protagonistin ist zynisch, erwartet sie sich doch rein gar nichts von einer Gesellschaft, in der immer noch die Bartträger das Sagen haben. Aube ist schwanger, möchte aber kein Kind in diese Welt setzen. Erst im letzten, nachwortartigen Kapitel schlägt ihre Häme in eine lebensfreundliche Einstellung um.
All dies entspricht der Haltung, die man aus Interviews mit dem Autor kennt. Überhaupt handelt es sich bei „Huris“ um eine Art Programmliteratur – der Roman bekräftigt Überzeugungen, die im laizistischen Frankreich und darüber hinaus auf große Gegenliebe stoßen – und um eine komplexe Erzählmaschine, die durch viel Rhetorik und Realien, die nicht immer glaubwürdig erscheinen, zur Überhitzung tendiert.
Dennoch gibt es einen übergreifenden Handlungsbogen. Er verdankt sich der Frage, ob die „lächelnde“ Stimmlose den achtwöchigen, also etwas mehr als erbsengroßen Fötus in ihrem Bauch abtreiben soll oder nicht. Mit ihm führt Aube während des viertägigen Opferfests, bei dem zahllosen Lämmern die Kehlen durchgeschnitten werden, einen buchstäblich inneren Monolog.
Der Titel bezieht sich auf die von westlichen Medien so gerne zitierten Jungfrauen, die „Märtyrer“ (sprich: Attentäter) im islamischen Paradies erwarten. Aube nennt ihr Ungeborenes „meine Huri“ – eine Gleichsetzung, die man als kritischer Leser nicht unbedingt nachvollziehen mag.
Aus ästhetischer Sicht besteht das Problem des Romans aber weniger in der Aneignung der Geschichte Saâda Arbanes als in seiner Überladenheit mit symbolschweren Motivketten, Kontrasten und Parallelisierungen, denen man den Ehrgeiz, verblüffen zu wollen, allzu deutlich anmerkt.
Am eindrucksvollsten sind letztlich die wenigen chronologisch und ohne großen Metaphernaufwand erzählten Geschichten, etwa die einer Frau, die entführt und zwangsweise mit Terroristen verheiratet und zur Gebärmaschine gemacht wird; im Unterschied zu den männlichen Gotteskriegern wurde sie nie rehabilitiert.