

Vom Drang, alles zu vernichten
Oliver Hochadel in FALTER 42/2023 vom 20.10.2023 (S. 38)
Amitav Ghosh hat ein ehrgeiziges Buch geschrieben. „Der Fluch der Muskatnuss“ ist der lesenswerte Versuch, die multiplen Krisen unserer Gegenwart durch die Geschichte des Kolonialismus zu erklären. Der Titel des Buches nimmt Bezug auf eine Episode der niederländischen Kolonialgeschichte um 1620.
Die von Europäern heiß begehrte Muskatnuss wuchs ursprünglich nur auf den (heute zu Indonesien gehörenden) winzigen Banda-Inseln. Die Besatzer töteten einen Großteil der einheimischen Bewohner, zerstörten gezielt ihre Lebensgrundlagen und „rationalisierten“ den Anbau des Muskatnussbaumes. Für Ghosh ist die gewaltsame Inbesitznahme und Umgestaltung der Banda-Inseln ein „Gleichnis für einen Planeten in Aufruhr“, so der leicht kryptische Untertitel des Buches.
Das Beispiel der Muskatnuss findet sich in zahlreichen Variationen seit der globalen Expansion der europäischen Kolonialmächte um 1500. Es ist eine Geschichte exzessiver Gewalt, des Genozids und der Versklavung sowie der systematischen Ausbeutung natürlicher Ressourcen. Viele von Ghoshs Beispielen – der indische Schriftsteller lebt in New York – handeln von den Verbrechen weißer Siedler an den Native Americans, die bis heute als Menschen zweiter Klasse behandelt werden.
Zentral für Ghosh ist das Konzept des „Terraforming“, also wie die Kolonialmächte das Land und dessen Nutzung umgestalteten, „eine ganz eigene Art von Kriegsführung“. Dazu gehören das Einschleppen von Krankheitserregern, großflächige Abholzungen, das Abschlachten lokaler Fauna (der Bisons etwa), letztlich also die Zerstörung der Lebensgrundlagen der einheimischen Bevölkerung. Ghosh sprich vom „Omnizid“, dem „Drang, alles zu vernichten.“
Der Autor kontrastiert scharf zwei Verständnisweisen der Natur: die westliche, rein utilitaristische, die Natur „als riesige Masse unbelebter Ressourcen“ behandelt. Die unterworfenen Ethnien hingegen verstehen Natur als etwas Belebtes.
Ghoshs Buch ist gepflastert mit Beispielen aus Geschichte und Gegenwart: Berggipfeln, Seen, Bäumen, Tieren, Vulkanen, ja ganzen Landschaften werden Subjektivität, bestimmte Eigenschaften oder eine Seele zugeschrieben.
Der Westen tat dieses animistische Verständnis von Natur lange Zeit als abergläubisch, vorwissenschaftlich oder esoterisch ab. Angesichts der globalen Umweltzerstörung, von Gerichtsurteilen, die Orang-Utans oder Flüsse (etwa den Whanganui in Neuseeland) als Rechtssubjekte anerkennen, und der zunehmenden Akzeptanz der Gaia-Hypothese (die die Biosphäre unseres Planeten als Organismus versteht) konstatiert Ghosh hier ein Umdenken.
Bücher, die alles erklären wollen, lassen sich leicht kritisieren. Ghosh argumentiert mitunter etwas sprunghaft, simplifiziert und berücksichtigt spezifische historische Kontexte nicht ausreichend. Sein historisches Panorama der Neuzeit gerät etwas holzschnittartig: der böse Kolonialherr versus den mit der Natur im Einklang lebenden Eingeborenen. Geschenkt. Dem Autor geht es nicht um ein vollständiges Sündenregister des weißen Mannes. Ghosh ist inhaltlich bestens eingelesen und bezieht immer wieder öffentlich Position zu den multiplen Krisen unserer Gegenwart.
Das Buch ist mehr als eine empörte Generalabrechnung mit dem ausbeuterischen Kapitalismus. Seine größte Stärke besteht im Insistieren auf verborgene Machtstrukturen, den Eigeninteressen von Großmächten und den geschickten Schachzügen der Industrie, etwa dass im „Kyoto-Protokoll von 1997 auf Drängen der USA beschlossen wurde, dass Emissionen aus militärischen Aktivitäten nicht einbezogen werden“. Oder dass die mittlerweile weit verbreitete Formel vom CO2-Abdruck die Verantwortung für die Umweltkrise auf den Einzelnen abwälzt – eine Marketingidee des Energiegiganten BP. Durch das Gerede von „natürlichen Prozessen“ werde menschliches Handeln verschleiert.
Vehement kritisiert Ghosh auch die Debatte um den Klimawandel, die von der westlichen Sichtweise dominiert werde, andere Stimmen blieben ungehört. Die „Optik der Macht“, die auf der althergebrachten Idee der zivilisatorischen Überlegenheit fußt, präge nach wie vor unsere Wahrnehmung.
Ghosh berichtet von seiner Begegnung mit dem aus Bangladesch geflüchteten Khokon in Italien. Ihn als „Klimaflüchtling“ zu beschreiben, würde zu kurz greifen. Khokon verließ seine Heimat nicht allein wegen des steigenden Meeresspiegels, sondern um einem Geflecht aus sozialer Ungerechtigkeit und Umweltkrisen zu entkommen. Der Klimawandel sei „nur ein Aspekt einer viel umfassenderen planetaren Krise“ und die Folge von einem halben Jahrtausend Terraforming.
Ein rabenschwarzes Buch ist „Der Fluch der Muskatnuss“ dennoch nicht geworden. Ghosh verweist auf zahlreiche Initiativen und politische Bewegungen „von unten“, insbesondere von indigenen Völkern im Globalen Süden. Entscheidend sei deren Glaube an die Belebtheit der Natur als Grundlage für einen respektvollen Umgang mit ihr.
Die Wette des Kapitalismus auf Gewinne in der Zukunft überzeuge niemanden mehr, der Konsumismus werde an sein Ende kommen. Kein Wunder, dass die Superreichen über die Kolonisierung des Mars nachdenken, so Ghosh. Es brauche eine neue gemeinsame und inklusive Sprache, Empathie mit den Geschichten der anderen, „ein Narrativ der Demut, in dem die Menschen nicht nur ihre wechselseitige Abhängigkeit voneinander anerkennen“, sondern auch alle anderen Lebewesen miteinschließen.