

Nichts als unsere Sinne
Julia Kospach in FALTER 42/2023 vom 20.10.2023 (S. 41)
Gestatten: der Riesenfischuhu! Er ist ungefähr so groß wie ein Adler, „aber fluffiger und stattlicher“, besitzt „enorme Ohrenbüschel“, hat eine Flügelspannweite von zwei Metern und wirkt fast „zu wuchtig und skurril für einen echten Vogel, fast so, als hätte jemand ein Bärenjunges hastig mit einem Haufen Federn beklebt und das verwirrte Tier auf einen Baum gesetzt“. Dafür hat es dieser vermeintliche Antiheld der Vogelwelt zum Helden eines berauschenden Nature Writing-Buchs gebracht, dessen wunderbarer Titel „Die Eulen des östlichen Eises“ einen allein schon magisch anzieht. Geschrieben hat es der US-amerikanische Wildbiologe Jonathan C. Slaght. Mit ihm hat das ohnehin sehr bunte Biotop des Nature Writing einen weiteren Glücksfall zu vermelden: einen Mann mit einer seltenen Begabung für eigenwillig-anschauliche Naturbeschreibungen (siehe oben), mit unermüdlichem Forschergeist, mit Humor, Ausdauer und Erzähltalent sowie mit jener Todesverachtung für Unannehmlichkeiten und körperliche Anstrengungen, die man benötigt, wenn man in einer der unwirtlichsten und entlegensten Gegenden der Welt nach einem seltenen, bedrohten Riesenuhu sucht, der ein geisterhaft geheimes Nachtleben führt.
Mit einem Wort: Slaghts Buch passt bestens in die „Naturkunden“ des Matthes & Seitz-Verlags, als dessen 87. Titel es kürzlich erschienen ist. Die höchst erfolgreiche Buchreihe begeht heuer ihren zehnten Geburtstag und hat allen Grund zum Feiern. Als Matthes-&-Seitz-Verleger Andreas Rötzer und die Schriftstellerin Judith Schalansky, die jeden einzelnen Band der „Naturkunden“ nicht nur herausgibt, sondern auch deren bibliophile Gestaltung verantwortet, ihr Projekt 2013 aus der Taufe hoben, sorgten sie in den ersten Jahren beinah im Alleingang dafür, dass das hierzulande völlig unterbelichtete Genre des Nature Writing auch bei uns endlich nachhaltig unter die Leute kam. In anderen Kulturräumen wie dem anglosächsischen treibt es schon lange die üppigsten Blüten. Inzwischen sind auch viele andere Verlage auf den Natur-Zug aufgesprungen, allerdings gehören die „Naturkunden“-Bände unverändert zu den schönsten, interessantesten und vielfältigsten, die das Schreiben über die Natur zu bieten hat.
Ein kleines, feines, natürlich ebenfalls von Schalansky herausgegebenes Jubiläums-Lesebuch gibt nun einen Überblick über naturschriftstellerische Höhepunkte, die Matthes & Seitz im letzten Jahrzehnt verlegt hat. Eine Art Who’s who des historischen und zeitgenössischen Nature Writing ist darin unter dem Titel „Wir sind hier, um Zeuge zu sein“ versammelt: von Klassikern wie Henry David Thoreau („Walden“), Yosemite-Wildnisprophet John Muir und dem großen französischen Insektenforscher-Literaten Jean-Henri Fabre über den britischen Waldläufer und Naturschwimmer Roger Deakin, die US-Erforscherin indigenen Pflanzenwissens Robin Wall Kimmerer, den begnadeten aktuellen Posterboy des Nature Writing Robert Macfarlane, der über alte Wege schreibt, bis zum Auszug aus Isabel Fargo Coles Alaska-Expeditionsbericht auf den Spuren des historischen Klondike-Goldrauschs.
„Wir haben nichts als unsere Sinne, um der Welt zu begegnen“, schreibt Judith Schalansky in ihrem Vorwort zu diesem Lesebuch und leitet gleich zu einer Großen des US-Nature Writing über, zu Annie Dillard, die die große Herausforderung des Genres in Worte fasst: Es gehe dabei stets um den „Versuch, über etwas zu schreiben, das selbst über keine Sprache verfügt“, um die Produkte dieses Schreibens einer Menschheit anzutragen, die zu einem überwältigend großen Teil „der Natur gegenüber taub geworden ist“. Und doch boomt das Genre gewaltig. Auch das kein Zufall, so Judith Schalansky, denn „nicht ohne Grund werden Naturphänomene erst dann zum alleinigen literarischen Gegenstand, wenn massiver Um- und Raubbau die Landschaften bis zur Unkenntlichkeit entstellt“.
Womit wir wieder zurück bei Jonathan C. Slaght und seinem Riesenfischuhu-Rettungsprojekt wären. Sein Buch ist ein Bericht über mehrere winterliche Feldforschungsaufenthalte in den endlosen Wäldern der Region Primorje im äußersten Osten Russlands nördlich von Wladiwostock, wo die Riesenfischuhus zunehmend bedrängt von in die Wildnis vordringenden Holzfällertrupps leben. Slaghts Ziel: sie zu finden, einzufangen, mit Sendern auszustatten, aus den Daten ihre genaue Lebensweise zu erfahren und in weiterer Folge ein Schutzprogramm für sie zu entwickeln. „Wie schwer kann das schon sein?“, fragt er eingangs und stellt rasch fest: sehr schwer.
Er kriegt es mit Überflutungen, Wildfeuern, Autopannen, subarktischen Stürmen, Schneemassen, im Flusseis versinkenden Motorschlitten, nächtelangem, bewegungslosen Lauern in Tarnzelten bei eisigen Temperaturen oder schrecklichen Katern von den ortsüblichen Ethanol-Saufereien zu tun. Die Riesenfischuhus zeigen sich ihm erst nach und nach, während er und seine Mitstreiter in Minischritten lernen, sie aufzuspüren und die dumpfen Gesangsduette der Uhu-Paare aus den Geräuschen der Wildnis herauszuhören. Dabei kriecht er mal im Ganzkörperneopren Flussläufe hinauf und zählt Fische, mal sitzt er „verkleidet als Marshmallow Man“ (mit wattierter Decke) im Gebüsch, um der seltensten Eule der Welt näher zu kommen. Obwohl es hier viel um geduldiges Warten geht, sprudelt Slaghts Buch über vor szenischem Witz, Beobachtungsgenauigkeit und Detailverliebtheit. Fast fühlt es sich an, als schleppte, schwitzte, jagte, forschte man direkt an seiner Seite. „Die Eulen des östlichen Eises“ ist, wie Helen Macdonald, Autorin des Bestsellers „H wie Habicht“, schreibt, „eine unfassbar fesselnde Lektüre“ und feinstes Nature Writing.
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