

Du und ich und die russische Justiz
Christina Vettorazzi in FALTER 11/2024 vom 13.03.2024 (S. 33)
Jura verliebt sich in Wolodja. Wolodja verliebt sich in Jura. Die Liebesgeschichte der beiden jungen Männer könnte so einfach sein, wären da nicht Ort und Zeit des Geschehens. Denn die Handlung des Romans "Du und ich und der Sommer" spielt 1986 im sowjetischen Pionierlager. Für queere Liebe ist da kein Platz. Bis heute hat sich daran wenig geändert.
Die Ukrainerin Katerina Silwanowa und die Russin Elena Malisowa lernten einander 2016 über eine Plattform für Online-Literatur kennen und freundeten sich so schnell an, dass sie schon ein halbes Jahr später beschlossen, gemeinsam ein Buch zu schreiben.
Unter dem Titel "Sommer im Pionierhalstuch" erschien Silwanowas und Malisowas Werk zuerst als Fortsetzungsroman im Internet. Als der unabhängige, russische Verlag Popcorn Books den Text 2021 mit einer Auflage von 12.000 Exemplaren verlegte, trendete das Werk bereits auf der Social-Media-Plattform Tiktok.
In der ersten Jahreshälfte 2022 stand "Du und ich und der Sommer" mit über 300.000 verkauften Büchern auf Platz eins der russischen Belletristik-Bestsellerliste und erzielte über 450 Millionen Aufrufe auf Tiktok. "Wir hatten weder mit der Popularität gerechnet noch konnten wir das Ausmaß der Schikanen vorhersehen, denen wir deswegen ausgesetzt sein würden", erzählen die Autorinnen Silwanowa und Malisowa dem Falter. Ende Februar veröffentlichte der Blanvalet Verlag ihren Roman nun erstmals auf Deutsch.
Die queere Liebesgeschichte der beiden Burschen entfaltet sich langsam. Sie beginnt als ungewöhnliche Freundschaft zwischen dem draufgängerischen 16-Jährigen und dem fast drei Jahre älteren Sommercampbetreuer. Dabei wirkt der 18 Jahre alte Wolodja nur auf den ersten Blick systemtreu: "Wahrscheinlich ist jeder denkende Mensch bei uns im Land unzufrieden, dass wir immer noch so leben wie vor fünfzig Jahren." Seine Strategie und dementsprechend sein Rat an Jura: "Es ist einfacher, das zu tun, was von einem verlangt wird: In den Komsomol einzutreten und dann in die Partei, ganz egal, was du von ihr hältst."
Silwanowa und Malisowa hatten eine Online-Publikation geplant und nicht mit großer Resonanz gerechnet. Daher machten sie sich anfangs weniger Sorgen wegen des Themas. Das änderte sich im Frühling 2022, als die ersten Drohungen in ihren Social-Media-Postfächern landeten.
Der russische Schriftsteller und Politiker Sachar Prilepin forderte auf Telegram ein Gesetz, das die nationalen sowjetischen Symbole schützen solle: die rote Fahne, das rote Halstuch, Gemälde und Skulpturen von "Helden" jener Zeit. Im selben Monat kritisierte die russische Abgeordnete der kommunistischen Partei Nina Ostanina das Buch als "Propaganda von Homosexualität".
Anfangs blieben die Autorinnen gelassen. Im Mai 2022, so erinnern sie sich, erschienen jedoch innerhalb von wenigen Tagen hetzerische Posts in mehreren kriegsbefürwortenden Telegram-Kanälen, teilweise mit Fotos der Autorinnen versehen. Da war klar: Sie müssen gehen, und zwar schnell. Ihr erster Halt war Armenien, dann zog es Silwanowa zurück in ihre Heimat, die Ukraine. Malisowa reiste weiter nach Deutschland.
Medien wie der Spiegel und Deutschlandfunk Kultur berichten über eine Liste verbotener Bücher. Darauf stehen angeblich Schriftsteller wie Stephen King oder J.K. Rowling und auch russische Autoren wie etwa Mikhail Zygar, der als "ausländischer Agent" gelabelt worden sei. Als "ausländischer Agent" gelten NGOs oder Personen, die politisch tätig sind und mit Geld aus anderen Ländern finanziert werden.
Als Zygar diesen Status vor Gericht anfocht, habe er verloren, erzählt er im Spiegel. Die Begründung: Er erhalte schließlich Tantiemen für seine Veröffentlichungen aus Bulgarien und den USA. Wichtiger dürfte wohl sein, dass Zygar einen kollektiven Appell von Künstlern gegen den Ukrainekrieg verfasst hatte. Deutschlandfunk Kultur berichtet von einem Fall, wo bestimmte Bücher von einer Bibliothek nicht mehr angenommen wurden. Das russische Kulturministerium dementiert die Existenz einer solchen Liste.
Silwanowa und Malisowa beobachteten selbst, wie der Roman, nach der negativen Resonanz in den sozialen Medien, aus den Regalen der Buchhandlungen verschwand. Am 3. Februar 2023, erzählen die beiden Frauen, landeten sie schließlich im Register der "ausländischen Agenten".
Im Dezember 2022 wurde ihr Buch verboten, als Putin jenes Gesetz unterzeichnete, das "die Propaganda für nicht traditionelle sexuelle Beziehungen" gegenüber allen Altersgruppen untersagt. Der russischen Gesetzgebung zufolge umfasst Propaganda öffentliche Handlungen sowie die Verbreitung von Information durch Medien, Werbung, Bücher und Filme.
Positive Äußerungen über Homosexualität gegenüber Kindern standen in Russland schon seit 2013 unter Strafe. Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch stufte das Gesetz 2014 als "Freibrief für die Diskriminierung von LBGT" ein. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte bewertete die Regelung als Verletzung der Europäischen Menschenrechtskonvention. Die Autorinnen von "Du und ich und der Sommer" sehen die Regulierung ihres Buches als einen "Vorwand, den die Abgeordneten nutzten, um die LGBTQ-Gemeinschaft in Russland zu verbieten".
Nach dem Ende der Sowjetunion wurde 1993 der berüchtigte Paragraf 121 abgeschafft, der sexuelle Handlungen zwischen Männern mit bis zu fünf Jahren Haft bestrafte. Es dauerte weitere sechs Jahre, bis Homosexualität nicht mehr als krankhaft galt.
In "Du und ich und der Sommer" spielt diese Sozialisierung natürlich eine Rolle. Die beiden Hauptfiguren Jura und Wolodja wehren sich anfangs stark gegen ihre Emotionen. Als sie über unerwiderte Liebe sprechen - ohne einander zu verraten, um wen es geht -vermittelt Wolodja dem jüngeren Jura, dass seine Gefühle nicht so tief sein können und er "ganz bestimmt seinen inneren Frieden wiederfinden würde". Auf Juras Frage, warum Wolodja nicht mit dem Mädchen, das er liebt, zusammen ist, antwortet der Gruppenleiter bloß: "Weil es so besser ist."
Die beiden jungen Männer können und wollen ihre Gefühle jedoch nicht ewig ignorieren. Schon beim zweiten richtigen Kuss erwischt sie Mascha, ein Mädchen der Theatergruppe. Sie spielt Klavier und himmelt Wolodja an. Bestimmt bedingt auch ihre Zuneigung die Reaktion, die aber dennoch als Zeichen der Zeit gelesen werden kann: "Ihr seid nicht normal! Ihr seid krank!"
"Du und ich und der Sommer" zeichnet ein empathisches Bild einer Liebe, die in einem autoritären System wächst. Die letzte Seite ist dabei als Anfang zu lesen, denn das ukrainischrussische Autorinnen-Duo hat den Roman als ersten Teil einer Trilogie angelegt. "Du und ich und die Schwalben" ist bereits bei Popcorn Books erschienen und wird ab Juli 2024 auch auf Deutsch erhältlich sein.