

Autopolo, Luftgolf und der moderne Sport
Sebastian Fasthuber in FALTER 11/2020 vom 11.03.2020 (S. 36)
Kulturgeschichte: Zwei Bücher zur Geschichte des Wettkampfsports belegen, dass es früher verrückter zuging
Kennen Sie Eis-Tennis? Autopolo? Luftgolf? Nein, nie gehört? Wie verhält es sich dann mit Stelzen gegen Läufer gegen Pferde? Zentrifugalkegeln? Oder den wirklich gefährlichen Sachen wie Feuerwerksboxen oder Wasserfallreiten?
Sie denken wahrscheinlich, es handelt sich um Fantasiesportarten, deren Namen sich jemand nach ein, zwei Gläschen zu viel ausgedacht hat. Doch all diese seltsamen Wettbewerbe gab es tatsächlich einmal. Einige davon blieben Experimente, die sich auf einzelne Städte beschränkten, andere waren veritable Hypes ihrer Zeit. Sie verschwanden jedoch, weil sie sich als zu halsbrecherisch, wenig praktikabel oder als zu anspruchsvoll erwiesen.
Herrlich verrückte Wettkämpfe aus der Pionierzeit des Sports sowie ihre Erfinder stellt der britische Autor Edward Brooke-Hitching in dem Buch „Kleines Brevier vergessener Sportarten“ vor. Hervorgebracht wurden sie durch neue technische Errungenschaften, Forschergeist sowie manchmal einfach nur zu viel Tagesfreizeit (so erprobten US-Studenten einst, wie viele Personen sich in eine Telefonzelle stopfen lassen).
Als sich Anfang des 20. Jahrhunderts das Automobil durchzusetzen begann, brachte die Geschwindigkeit Wagemutige auf neue Ideen. Der traditionelle Polosport erschien dem Bostoner Joshua Crane jr. plötzlich lahm. Da er begeisterter Autofahrer war, erfand er die actionreiche Disziplin Autopolo, von der es heißt: „Zur Freude der Zuseher ignorierten die Fahrer oft den Ball und rammten zunächst ihre Gegner; erst dann wandten sie ihre Aufmerksamkeit dem Toreschießen zu.“ In den 1910ern breitete sich die Sportart über die Vereinigten Staaten aus. Nach einiger Zeit ließ die Begeisterung aber nach. Die Teilnehmerzahl war wegen häufiger Verletzungen und hoher Reparaturkosten an den Autos rückläufig. Das Publikum wiederum wandte seine Aufmerksamkeit neuen Spektakeln wie Autorodeo zu.
Andere Sportarten wären heute kaum noch denkbar, weil sie von ungleichen Voraussetzungen ausgingen. Die Disziplin Stelzen gegen Läufer gegen Pferde ist dafür ein Beispiel: Die Idee zu einem Wettrennen von Stelzenläufern gegen „normale“ Langstreckenläufer und Reiter stammt aus dem französischen Waldgebiet Landes des Gascogne, wo Hirten mit Stelzen durch unwegsames Gelände gingen und dadurch einiges Geschick in dieser Fortbewegungsart entwickelten. Am Ende des mehrtägigen Bewerbs über 400 Kilometer gewann ein Mann auf einem Pferd, allerdings nur knapp vor einem Stelzenläufer.
In manchen Disziplinen stand die Gefahr im Vordergrund. Beim Feuerwerksboxen prügelten sich zwei Männer in Asbestanzügen, an die Vorrichtungen mit Feuerwerkskörpern angebracht wurden. Die Show unterhielt Ende des 19. Jahrhunderts den Schah von Persien und den deutschen Kaiser. Ein eher trauriges Kapitel stellt das Wasserfallreiten über die Niagarafälle dar. Annie Edson Taylor, eine mittellose ältere Frau, erhoffte sich dadurch Ruhm und Reichtum. Sie überlebte den Ritt in einer verschlossenen Tonne zwar, der Geldregen blieb allerdings aus.
Vor gut 100 Jahren war im Sport fast alles möglich. Heute sind Breiten- wie Spitzensport perfekt ausgeprägte Wettkampfsysteme, in denen Innovation und Improvisation kaum mehr eine Rolle spielen. Davon berichtet der deutsche Forscher Hans-Jürgen Hohm in seinem Buch „Der Spitzensport der Moderne. Sportarten, Ligen, Sportareale, Saisons und körperliche Höchstleistungen“. Der Verfasser ist ein sportbegeisterter Soziologe. Wenn er im Vorwort kurz seine eigene Sportgeschichte ins Spiel bringt, menschelt es ein wenig. Leider ist der Rest im Jargon seiner Zunft verfasst und sehr kompliziert zu lesen, ohne dass sich dadurch ein Mehrwert ergeben würde. Schade, denn Teile des Buches sind durchaus interessant.
Hohm untersucht den Spitzensport als „evolutionären Spätstarter“ sowie seine Funktion in der Gesellschaft. Der moderne Wettkampfsport entwickelte sich erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und ist somit nicht einmal 150 Jahre alt. Ein lesenswertes Kapitel zeichnet die Ausprägung der weltweit beliebtesten Sportart nach, es rekapituliert die frühen Tage des englischen Fußballs ab den 1850ern. Die Unterschiede zu anderen Disziplinen waren anfangs vage. Den ersten offiziellen Fußballverein, den FC Sheffield, gründeten 1857 Cricketspieler. Noch näher stand das frühe, extrem körperbetonte Spiel dem Rugby, von dem es sich nur langsam abgrenzte. Dass der Ball von Feldspielern nicht mit der Hand berührt werden darf, war zunächst alles andere als klar. Erst nach zähen Diskussionen fand folgender schöner Satz 1863 Eingang ins erste Fußball-Regelwerk: „Kein Spieler soll den Ball tragen.“
Ganz zu Beginn stellte Fußball ein der Elite bzw. oberen Mittelschicht vorbehaltenes Vergnügen dar. Die Mitglieder des Sheffield FC waren Ärzte, Anwälte und Unternehmer, die sich „Gentlemen players“ nannten. Nicht nur, dass sich andere Gesellschaftsschichten die Mitgliedsgebühren nicht hätten leisten können, sie waren auch aufgrund der Spielzeit am Samstagnachmittag ausgeschlossen. Die Mehrheit der Bevölkerung musste zu der Zeit arbeiten.
Ab 1880 kamen professionell geführte Vereine auf. Die wohlhabenden Amateure waren darüber nicht erfreut, wie ein von Hohm ausgegrabenes Dokument aus der Zeit beweist. Die „Gentlemen“ ereiferten sich darin, dass nur sie mit Freude Fußball spielen könnten. Sie nämlich verfügten über die nötige Zeit und das Geld. Profis dagegen seien auf ihre Einkünfte angewiesen und daher nur am Siegen („selbst mit unfairen Mitteln“) interessiert.
Hier liegt die Geburtsstunde des modernen Fußballs, der Rest ist Geschichte.