

Ein Blick durch das Kaleidoskop auf das Jahr 1945
Barbaba Tóth in FALTER 18/2025 vom 30.04.2025 (S. 19)
Im Jänner 1945 wartet die Wiener Backwarenverkäuferin Anni Bäuml, 17, darauf, dass sich ihr um ein Jahr jüngerer Verehrer Josef Kainz von der Front meldet. Sie schreiben sich Briefe. Josef ist in Sachsen stationiert, im Osten Deutschlands, er wurde einer Panzer-Nahkampftruppe zugeteilt, die den Vormarsch der Roten Armee stoppen soll. Jeder, der eins und eins zusammenzählen konnte, wusste, dass das Deutsche Reich den Zweiten Weltkrieg nicht mehr gewinnen konnte. "Hoffe, dass Du mich ein wenig lieb hast und mir treu sein willst", schreibt Josef an Anni.
Die Geschichte seiner Eltern Anni und Josef ist eine von vielen aus dem Leben der "einfachen Leute", die der Historiker und Journalist Herbert Lackner für sein neues Buch "1945. Schwerer Start in eine neue Zeit" aufgeschrieben hat. Geschickt verwebt Lackner, Jahrgang 1950, langjähriger Chefredakteur des Profil und inzwischen Autor zahlreicher historischer Sachbücher, die Schicksale von normalen Menschen mit jenen von prominenten Helden und Anti-Helden. Zu den Anti-Helden gehören jene Zivilisten, die Anfang Februar 1945 im Mühlviertel auf Geheiß der SS 500 entflohenen KZ-Häftlingen nachstellen und sie ermorden. Das Blutbad, das später unter dem zynischen Begriff "Mühlviertler Hasenjagd" in die Zeitgeschichte einging, ist eines der grausamsten Endphasen-Verbrechen. Nur drei Bauernfamilien weigern sich, bei der Hetzjagd mitzumachen, und verstecken Flüchtlinge.
Zwölf Monate des Jahres 1945, erzählt in zwölf Kapiteln als Geschichte von oben und unten zugleich: Solche Collagen, die ihren Reiz daraus gewinnen, die Gleichzeitigkeit von Ereignissen, die nichts miteinander zu tun haben, im Rückblick zu rekonstruieren, liegen im Trend. Zu Recht, durchbrechen sie doch das autoritäre Erzählen und die daran geknüpfte Vorstellung, die Geschichte folge einem bestimmten Ziel und das Handeln ihrer Akteure sei in sich logisch.
Der Fokus auf das Jahr 1945 im Gedenkjahr 2025 ist nicht überraschend. Manche Zeitzeugen, die berichten können, leben noch. Im Wien Museum ist aktuell eine Schau zu sehen, die das erste Jahrzehnt nach Kriegsende, von 1945 bis 1955, erzählt, darunter kommen Altbundeskanzler Franz Vranitzky und die Journalistin Barbara Coudenhove-Kalergi zu Wort ("Kontrollierte Freiheit. Die Alliierten in Wien").
Österreichs problematischer Umgang mit seiner Vergangenheit ist in den letzten drei Jahrzehnten, in der Folge des Waldheim-Skandals, aufgearbeitet worden. Die Frage, warum das Land sich viel zu lange nur als Opfer der Nazis gesehen und seine Täter-Mitschuld verdrängt hat, ist erschöpfend erklärt. Das Land ist zum ersten Mal im Zuge von Jubiläumsfeierlichkeiten sozusagen auf Augenhöhe mit seiner Geschichte. Das gibt freie Sicht auf das Schlüsseljahr 1945 und seine vielen Implikationen auf die Gegenwart.
Wie in jedem guten historischen Sachbuch dekonstruiert Lackner in seiner rasanten Jahreskreis-Reportage auch ein paar Mythen. So war die berühmte Weihnachtsrede 1945, die der damalige ÖVP-Kanzler Leopold Figl hielt ("Ich kann euch zu Weihnachten nichts geben, kein Stück Brot, keine Kohle zum Heizen, kein Glas zum Einschneiden. Wir haben nichts. Ich kann euch nur bitten, glaubt an dieses Österreich!"), eine geschickte, durchaus nationalistische Re-Inszenierung. Die beiden konservativen Journalisten Hans Magenschab und Ernst Wolfram Marboe ließen sie Figl knapp vor seinem Tod einsprechen. Nicht im Dezember 1945, sondern 1965.