

Im Halbschatten unserer Seele
Julia Kospach in FALTER 42/2024 vom 18.10.2024 (S. 8)
Es ist eigentlich egal, ob man die 18 Texte von Natalia Ginzburg (1916–1991), die der – neu aufgelegte – Band „Das imaginäre Leben“ versammelt, Kurzprosa, Skizzen, Feuilletons oder Selbstbefragungen nennt. Sie sind irgendwo dazwischen angesiedelt und bis auf eine Ausnahme nur wenige, dichte Seiten lang.
Viel wesentlicher ist es, über den Ton zu sprechen, in dem die große italienische Autorin, Essayistin und Parlamentarierin sie gehalten hat. Dieser Ton ist völlig unverstellt und so einfach wie die klaren Züge einer von erfahrener Meisterhand geschnitzten Holzmaske: alles Wesentliche vorhanden, kein Firlefanz, große Expressivität.
Natalia Ginzburg befragt sich in diesen Texten selbst, erforscht ihre Gefühle und Motive, Sehnsüchte und Fantasien, ihre Beziehungen zu Menschen und Orten, unternimmt Vergleiche zwischen unterschiedlichen Lebensaltern. Sie tut das ruhig und in gemessenem Tempo.
Das Spektrum ihrer Themen ist breit und man könnte auch sagen: disparat. Es geht um ihre Kindheit, um die tiefe Verbundenheit mit der Stadt Rom, ums Reisen, für das man äußerst unbegabt sein könne, und um den Sommer, den man wie sie zutiefst hassen kann; es geht ums Judentum, um die Sexualität und immer wieder um die Familie und das Generationengefüge.
Darüber hinaus macht sich die Autorin Gedanken über die „doppelte Natur“ der Intellektuellen, denen zwar die Privilegien von Bildung und reichem Wortschatz zur Verfügung stünden, die sich aber umgekehrt gerade deswegen selten in die Lage von Menschen versetzen könnten, die nicht über diese Mittel verfügen.
Ginzburg gelangt zu der Einsicht, dass politisches Denken und Handeln immer bedeutet, eine Absicht zu verfolgen, und sie fragt sich, wie es kommt, dass sie sich als Jüdin allen Juden verbunden fühlt, obwohl sie nicht glaubt, „dass es Aufteilungen nach Blut gibt“ („Die Juden“). In wenigen Strichen zeichnet sie die „Verzweiflung der Adoleszenz“ nach („Sommer“) und staunt über unsere Zeit, „in der wir den Kindern weitschweifige Erklärungen über jeden Aspekt des Universums zu geben pflegen“ („Die Kindheit und der Tod“).
Manche ihrer Überlegungen besitzen eine geradezu unheimliche Aktualität – etwa jene, ob man sich auf die Seite des Staates Israel stellen soll: „Die Menschen und die Völker machen sehr rasche und schreckliche Veränderungen durch. Die einzige Wahl, die wir haben, ist, auf der Seite jener zu sein, die zu Unrecht sterben oder leiden.“ Andere Einträge wiederum sind ganz der Zeit ihrer Entstehung verhaftet („Die Frauen“) und wirken aus heutiger Sicht fast rührend vergangen.
Wie um deutlich zu machen, dass sie Erfahrungen mit anderen teilt oder es sich um kollektives Erleben handelt, sind einige von Ginzburgs Stücken in der ersten Person Plural verfasst; etwa wenn sie der Frage nachgeht, wie sich der Gehalt, den der Begriff „Freiheit“ in ihrer Jugendzeit hatte, mit dem Älterwerden verändert hat: „Schon lange haben wir angefangen zu denken, dass Freiheit vielleicht eines der dunkelsten, schwierigsten, kompliziertesten Wörter ist, die es auf der Welt gibt.“
Es ist dies ein typischer Ginzburg-Satz. Er bietet keine Lösung an, scheut aber nicht davor zurück, sich – um es neudeutsch auszudrücken – „ergebnisoffen“ über alle Facetten des Problems Gedanken zu machen.
Es ist einer der großen Verdienste dieser Autorin, deutlich zu machen, dass manche Widersprüche nicht aufgelöst werden können, sondern im Vagen und Ungewissen bleiben.
Ein wunderbares Beispiel dafür ist „Einige Gedanken über die Könige“. Darin erzählt Ginzburg, wie sie als Kind im Geheimen eine glühende Monarchistin gewesen war und sich auch in ihrem Erwachsenenleben nie ganz von dieser Begeisterung befreien konnte. Denn „im Halbschatten unserer Seele gedeiht eine Flora und eine Fauna, die keinerlei Beziehung zu unseren im Lauf der Zeit gereiften Überzeugungen, zum Denken und zur Vernunft hat.“