

Die Bereitwilligkeit, sich zu entkleiden
Julia Kospach in FALTER 41/2012 vom 10.10.2012 (S. 20)
Zwei schweinische Geschichten aus der Hand des begnadeten britischen Humoristen Alan Bennett
Im Jahr 1946 veröffentlichte der aus Österreich-Ungarn stammende britische Schriftsteller und Journalist Georges Mikes ein Buch mit Betrachtungen über das englische Wesen, wie es sich einem Zugereisten wie ihm selbst darstellte. Das Buch hieß "How To Be an Alien" und wurde rasend schnell berühmt – ein Umstand, den es zu einem Gutteil dem darin enthaltenen Kapitel zum Thema Sex verdankte, das aus genau einem Satz besteht: "Continental people have sex lives; the English have hot-water bottles".
Die Sache mit den Briten und den Ersatzwärmflaschen ist nicht erst seit damals ein äußerst liebevoll gehegtes nationales Vorurteil. Nicht dass zu erwarten wäre, dass Alan Bennetts wunderbares neues Buch "Schweinkram" an diesem Credo etwas Grundsätzliches ändern würde. Dennoch ist die Lektüre dieses kaum 150 Seiten starken Büchleins unbedingt anzuraten. Bennett empfiehlt sich damit nach seinem famosen Riesenerfolg "Die souveräne Leserin" (2007) aufs Neue als einer von Großbritanniens geistreichsten, witzigsten und stilsichersten Autoren.
Wann hat man sich zuletzt von zwei schweinischen Geschichten so elegant und leichtfüßig in luftige Lesehöhen gehoben gefühlt? Die im Rahmen einer kleinen Feldforschung erhobenen empirischen Daten ergaben außerdem: "Schweinkram" ist ein Buch für so gut wie jeden denkbaren Leser. Die Probe aufs Exempel fand diesen Sommer auf einem Segelboot vor der kroatischen Küste statt. Innerhalb einer Woche rissen sich fünf Personen nacheinander die Druckfahnen von "Schweinkram" aus den Händen, um jeweils dauerhaft und bis zur letzten Seite mit ihnen unter Deck oder aufs Vorschiff zu verschwinden – darunter ein Tischlermeister im Ruhestand, ein klassischer Gitarrist, eine Angestellte und eine Immobilienmaklerin.
Die unschuldig "Mrs. Forbes wird behütet" betitelte Geschichte beginnt gleich mit dem Satz: "Wie so viele gutaussehende Männer hatte auch Graham Forbes sich entschieden, eine Frau zu heiraten, die nicht annähernd so gut aussah wie er und sogar ein wenig älter war." Klar, dass seine Mutter, Mrs. Forbes, der Ansicht ist, ihr schöner, maßlos selbstverliebter Graham habe sich weggeworfen, und hinterm Rücken der so wenig ansehnlichen Betty einen Kampf der bissigen schwiegermütterlichen Bemerkungen entfesselt.
Doch Betty findet umgekehrt, dass ihr "wegen ihres Geldes jemand zustünde, der ansonsten nicht in ihrer Liga spielte". So nimmt das Schicksal seinen verworrenen Lauf und könnte auch vollkommen aus dem Ruder laufen, würden die kluge Schwiegertochter mitsamt dem stillen Schwiegervater nicht umsichtig und langfristig über Finanzen, Affären und Bettgeflüster walten.
Was genau passiert, kann unmöglich verraten werden, ohne den Lesespaß zu mindern; ebenso wenig wie die genauen Umstände, die in der zweiten Geschichte "Mrs. Donaldson erblüht" zum Erblühen der früh verwitweten, kultivierten Mrs. Donaldson führen. Nur so viel: Ein paar studentische Untermieter, ein das schauspielerische Talent herausfordernder Nebenjob in einem Krankenhaus sowie ein aus horizontaler Position heraus gemachtes Victory-Zeichen spielen darin eine maßgebliche Rolle.
Lange bleibt Mrs.Donaldson bei ihrer Haltung, die übergroße "Bereitwilligkeit, sich zu entkleiden, sei praktisch selbst ein Symptom, auch wenn sie kaum zu sagen vermocht hätte, welcher Krankheit". Sie entscheidet sich lieber für die Rolle der außenstehenden Dritten, ein Part, der ihr überraschend viel Freude zu bereiten beginnt.
Die eigentlichen Hauptdarsteller in "Schweinkram" sind aber natürlich Alan Bennetts Dialoge und seine auf kultivierte Konversation getrimmten treffsicheren Beschreibungen menschlicher Interaktionen. Ihm gebührt ein noch auszulobender Preis für den stets unpeinlichen, leichten und doch hyperpräzisen Ton bei Sexszenen. Was gedacht und was gesagt wird, stimmt natürlich so gut wie niemals überein. Alles ist ein Sündenpfuhl und Morast niederer Absichten, und doch kommt niemand zu Schaden, und ein jeder kriegt, was er braucht – und bisweilen sogar deutlich mehr.