Adrien Proust und sein Sohn Marcel
Ein Schwarm von Ärzten und Kranken durchzieht Marcel Prousts Romanzyklus »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit«. Seerosen werden mit Neurasthenikern verglichen, Liebeskranke hoffen, durch Impfstoffe immun zu werden, und im Salon von Madame de Saint-Euverte taucht der Komma- Bazillus, die Cholera, auf. Trotz dieser Überfülle an medizinischen Motiven in Prousts Werk rückte dessen Vater Adrien, seinerzeit als Pionier der Epidemiologie durchaus eine prominente Figur, kaum in den Blick.
Lothar Müller bringt Sohn und Vater wieder zusammen und wirft davon ausgehend ein neues Licht auf die Wechselwirkung zwischen moderner Literatur und Medizin. Er zeigt, wie sich der Sohn durch die Forschungswelten des Vaters inspirieren ließ und dass umgekehrt der Vater in seinem Kampf gegen die scheinbar aus dem Orient hereinbrechende Seuchengefahr auf die Formulierungskünste und die Vorstellungskraft seines Erstgeborenen zurückgriff.
So entsteht ein meisterhaftes Panorama des flirrenden gesellschaftlichen Lebens einer als Belle Époque verklärten Zeit, in der die psychischen Innenwelten literarisch neu erschlossen wurden und Europa den Globus nach seinen – politischen, kulturellen und hygienischen – Vorstellungen prägte.
Das Fin de Siècle vermag immer noch zu faszinieren. Lothar Müller untersucht die Verbindungen zwischen medizinischem Diskurs, gesellschaftlichen Umgangsformen, politischem Kalkül und Kunst. Er stellt zwei Protagonisten aus einer Familie in den Mittelpunkt: Adrien Proust, Professor für Hygiene in Paris, und seinen Sohn Marcel, der mit der „Recherche“ einen Romankoloss verfasst hat, durch den ein Regiment von Medizinern stolziert und in dem die Liebe als schwerer Krankheitsverlauf beschrieben wird.
Müller spürt Linien auf und macht Kontraste deutlich. Wo der eine als Feldforscher im Geist des Imperialismus zu den Vordenkern moderner Seuchenpolitik gehört, hat der andere medizinische und technische Errungenschaften wie kleine Triebfedern in sein Gesellschaftspanorama der Belle Époque montiert. Vater und Sohn schrieben an den Werken des jeweils anderen mit – mal offensichtlich, mal insgeheim.
Ulrich Rüdenauer in Falter 33/2021 vom 20.08.2021 (S. 30)
Reihe | Allgemeines Programm - Sachbuch |
---|---|
ISBN | 9783803137036 |
Erscheinungsdatum | 21.05.2021 |
Umfang | 224 Seiten |
Genre | Geschichte/Kulturgeschichte |
Format | Hardcover |
Verlag | Wagenbach, K |