

Unterm Bademantel Gänsehaut
Sebastian Fasthuber in FALTER 39/2014 vom 26.09.2014 (S. 27)
Seine Lieder vereinen Generationen, seine Karriere hat Maßstäbe gesprengt. Udo Jürgens, Österreichs einziger Entertainer von Weltformat, wird 80 Jahre alt
Donnerstagabend war ich bei Udo Jürgens in der Stadthalle. Es war gar nicht leicht, mir die Zeit dafür freizumachen. Aber ich bin froh, dass ich's getan habe." Bruno Kreisky verfasste im Oktober 1970, während er sein zweites Kabinett zusammenstellte, für den Express einen Bericht vom Udo-Jürgens-Konzert.
"Seine Lieder handeln von kleinen Dingen des Lebens, von denen, die so wichtig sind zwischen den Menschen", heißt es darin. "Dann plötzlich aber wird er ganz ernst, ganz leise, ganz eindringlich und anklagend zugleich. Ein Bekenntnis mitten im Trubel des Abends: ,Ich glaube, diese Welt müsste groß genug, weit genug, reich genug für uns alle sein.' Beim Hinausgehen sagt einer von den Älteren, Unbeteiligten zu mir: ,Der Udo Jürgens, der weiß, wie er sein Geld verdient.' Ich habe ihm geantwortet: ,Ja, aber er verdient sich's auch.'"
Welchen gerade angesagten heimischen Musiker Werner Faymann wohl mit einem ähnlichen Text bedenken würde? Dass einem niemand einfällt, geht nicht nur zulasten des amtierenden Bundeskanzlers, den man sich schwerlich als Verfasser solcher Zeilen vorstellen kann. Es liegt auch daran, dass Udo Jürgens fast ein halbes Jahrhundert später nach wie vor der wichtigste, beste und größte Entertainer und Musiker ist, den Österreich nach dem Zweiten Weltkrieg hervorgebracht hat.
Seine Karriere begann der gängigen Meinung zufolge 1966, als er mit "Merci, Chérie" für Österreich den Eurovision Song Contest in Luxemburg gewann. Tatsächlich kam sie damit erst so richtig ins Rollen. Schon seit er mit 17 Jahren das Gymnasium in Klagenfurt geschmissen hatte, weil er längst wusste, dass er nur Musik machen wollte, hatte Udo Jürgen Bockelmann als Sänger, Pianist und Komponist gearbeitet.
Wie bei so vielen Künstlern waren die frühen Jahre auch bei ihm entscheidend: Er tingelte als Pianist durch Lokale und spielte die ganze Nacht durch, bis die Finger bluteten; er kämpfte sich durch ein Repertoire aus populären Melodien, die er ein wenig mit Swing und Jazz versetzte, soweit die Zuhörer und der Lokalbetreiber es eben goutierten. All das zur Verwunderung seiner Familie, in der sich einige Politiker fanden (Vater Rudolf war Bürgermeister der kleinen Kärntner Gemeinde Ottmanach, Onkel Werner von 1957 bis 1964 Oberbürgermeister von Frankfurt am Main), aber kein Künstler. Einzige Ausnahme: Jürgens' Onkel mütterlicherseits, der Dadaist Hans Arp.
Den Sommer 1957 durfte der fesche Jüngling mit seinen Kollegen von der Udo Bolan Band (!) auf Einladung der Organisation "Experiment in International Living" in den USA verbringen. Ein Traum für ihn, der zu jener Zeit vor allem instrumentalen Jazz schrieb. Udo besuchte bei dieser Gelegenheit ein Konzert des Count Basie Orchestra; er absolvierte selbst einige Auftritte und noch mehr spätnächtliche Jamsessions in den wirklich heißen Schuppen New Yorks, und er verliebte sich in eine dunkelhäutige Schönheit und wurde auf der Straße als "nigger fucker" beschimpft.
Zurück in Europa, zog er seine Lehren aus dem Erlebten. Ihm wurde klar, dass mit Jazz hier kaum eine Karriere zu machen war: "Für mich selbst suchte ich einen anderen Weg, etwas, das mehr auf die Menschen zugeht, ohne sich anzubiedern, etwas, das eine Antwort ist auf die Gedanken und Gefühle, die das Publikum in sich trägt, ohne sie benennen zu können, etwas, das mit Sehnsucht zu tun hat und mit Leidenschaft, etwas, das wie die Unterhaltungsmusik ist, die man am Broadway hört, durchaus mit Elementen des Jazz durchsetzt."
Kurz: Er suchte den Weg der Mitte. Weil er in seinen Liedern nicht vorm Einsatz von Klischees zurückschreckt, war Udo Jürgens all jenen, die etwas auf sich und ihren guten Geschmack hielten, lange Zeit verdächtig. Seine Vorliebe für junge Mädchen tat das Ihre dazu. Er selbst nennt sich in seiner Autobiografie "Unterm Smoking Gänsehaut", wenn es um Frauen geht, mehrfach einen "Lumpenhund". Viele taten sich schwer damit, diesen Lumpenhund ernst zu nehmen, der in einem seiner Songs auch noch bekannte: "Ich lieb die leichten Lieder."
Aber selbst die kritischsten Zeitgenossen mussten irgendwann erkennen, dass der Mann ein Guter ist. Am Ende hat er noch jeden mit einer seiner Kompositionen gekriegt (Widerstand gegen Udo-Jürgens-Melodien ist zwecklos); er hat mit einem Text überrascht (etwa mit "Bruder, warum bist du nicht mehr mein Bruder", seinem Lied über das geteilte Deutschland, oder dem kirchenkritischen "Gehet hin und vermehret euch"), oder er hat als politisch denkender Zeitgenosse mit klaren Interviewaussagen gegen Jörg Haider Respekt verdient.
"Jede Gesellschaftsform, auch oder gerade die kapitalistische, braucht moralische Abstützung", sagt Udo Jürgens. Es gibt nicht viele Entertainer, die derartige Sätze in ihre Autobiografien schreiben.
Ein gewöhnlicher Schlagersänger war Jürgens nie. In seinen frühen Jahren musste er bei Revues allerdings bisweilen den Pausenclown für gerade angesagte Schlagerstars geben. Er hasste es und konnte nur mit Alkohol und Bauchschmerzen auf die Bühne gehen. Hätte er so weitergemacht, wäre er womöglich wie nicht wenige Interpreten dieses Genres zwischen verordnetem Frohsinn und Selbsthass frühzeitig vor die Hunde gegangen.
Doch noch während dieser Zeit feierte er als Autor erste Erfolge. Mit dem von ihm geschriebenen Song "Reach for the Stars" hatte die große Shirley Bassey 1963 in England einen Nummer-eins-Hit. Später sangen auch Ikonen wie Sammy Davis, Jr. und Bing Crosby seine Lieder. Dass Letzterer mit "Come Share the Wine", der englischen Fassung von "Griechischer Wein", gegen das Original gewaltig abstank, spricht für Udo Jürgens, den Interpreten.
Aber so weit sind wir noch nicht. Noch durfte er nur belanglose Liedchen singen, die andere für ihn geschrieben hatten. Der Umschwung gelang, als ihm sein erster Manager Hans R. Beierlein in der ersten Hälfte der 1960er einen ordentlichen Plattenvertrag verschaffte und ihn mit ambitionierteren Textern zusammenbrachte.
"Ein großer Entertainer muss aus einem Land mit großem Selbstvertrauen kommen", schreibt Jürgens in "Unterm Smoking Gänsehaut". "Der Entertainer muss einen Hauch von Überheblichkeit und Unvergleichlichkeit ausstrahlen. Siehe Frank Sinatra und Sammy Davis, Jr. Deutschland und Österreich hatten in den fünfziger Jahren kein Selbstbewusstsein."
In den Sechzigern sah es langsam anders aus. Mit zehn Jahren Verspätung wurde aus Udo Bockelmann ein Entertainer, wie ihn der deutschsprachige Raum noch nicht gekannt hatte: zwar nicht überheblich, aber mit einem enormen Selbstbewusstsein ausgestattet.
Als er nach dem Erfolg von "Merci, Chérie" seine erste große Solotournee absolvierte, war das ein riskantes Unterfangen. Damals traten in der Regel mehrere Sänger gemeinsam bei bunten Abenden auf. Udo Jürgens machte sich sein damals schon großes Repertoire zunutze und spielte selbst drei Stunden lang. Weil das Publikum auch dann nicht aufhörte weitere Lieder zu fordern, schickte sein Manager ihn nach dem Duschen noch einmal zurück hinaus auf die Bühne. Seine berühmte Bademantel-Zugabe war geboren.
In den späten 1960ern war er der erste deutschsprachige Popstar. Bei seinen Tourneen, die ihn bald durch ganz Europa und in weiterer Folge bis Japan und sogar China führen sollten (wo er als Uduo Yuergensi auftrat), fielen die Teenies zwar nicht wie bei den Beatles in Ohnmacht. Dafür brachten die Teenager aber ihre ebenfalls begeisterten Mütter mit. Heute kommt es nicht selten vor, dass drei Frauengenerationen einer Familie zusammen ins Udo-Jürgens-Konzert gehen.
Auf dem ersten Gipfel seines Ruhms ist 1971 das Buch "Warum nur, warum?" erschienen, in dem das Phänomen Udo Jürgens aus verschiedenen Blickwinkeln beleuchtet wurde. Der Sexualwissenschaftler Günther Hunold verglich Jürgens' Lieder in seinem Beitrag mit weiblicher Sexualität und fördert Erstaunliches zutage: "Die Melodien von Udo Jürgens sind spannungsmäßig dem Verlauf der weiblichen Orgasmuskurve angeglichen. Wenn man sich nun klarmacht, dass die wenigsten Frauen und Mädchen einen Partner haben, der dieser Spannungskurve folgt, dann wird verständlich, warum Udo Jürgens vor allem beim weiblichen Geschlecht so große Erfolge hat."
Es ist Udo Jürgens hoch anzurechnen, dass er es sich nicht leichtgemacht hat. In der Welt der dramatischen Schnulzen für den Haus(frauen)gebrauch hätte er sich wohnlich einrichten oder auf die Genie-mit-selbstzerstörerischen-Tendenzen-Schiene geraten können, wie es von Oskar Werner bis Falco nicht wenigen heimischen Künstlern passiert ist. Ihn hat das bereits Erreichte jedoch, ganz unösterreichisch, immer angespornt, weiterzumachen und noch ein bisschen mehr zu wagen.
Nachdem er 1979 mit "Udo '80" sein wahrscheinlich allerschönstes Album aufgenommen hatte, nützte er den Rückenwind, um in Los Angeles ein englischsprachiges Album einzusingen ("Leave a Little Love"). Auch danach, als die zeittypischen Synthesizerklänge nicht immer zu deren Vorteil in Udo-Jürgens-Produktionen Einzug hielten, ließ er nicht locker. Selbst seine schlechteren Alben haben immer ein gewisses Qualitätslevel und enthalten mindestens ein, zwei großartige Lieder. Von 1966 bis 1992 veröffentlichte er jedes Jahr ein Studioalbum, manchmal waren es auch zwei.
Um die 1000 Lieder hat der Überzeugungstäter geschrieben und rund 100 Millionen Schallplatten und CDs verkauft. Bis heute nimmt er regelmäßig neue Alben auf und gibt mit beachtlicher Kondition dreistündige Konzerte. 50 Auftritte umfasst seine kommende Tournee.
"Mitten im Leben" hat Udo Jürgens sein heuer im Februar erschienenes aktuelles Album genannt. Der Titel sei angesichts seines Alters "natürlich idiotisch", sagte er kürzlich in einem Interview, aber so empfinde er eben. In den neuen Liedern besingt er den gläsernen Menschen oder konstatiert: "Der Mann ist das Problem." Auch das nimmt für Udo Jürgens ein. Selten nur nimmt er in seinen Liedern eine überlegene Position ein und zeigt mit dem Zeigefinger auf andere. Lieber übt er Selbstkritik oder zeigt Schwäche.
Oft, aber nicht immer wurde verstanden, was der Mann im Smoking sagen wollte. "Den Rechten war ich zu links, den Linken nicht links genug", klagt er in seinem autobiografischen Familienroman "Der Mann mit dem Fagott". "Und sowieso unglaubwürdig, weil ich selbst gern gut lebte und natürlich auch kein ,Protestsänger' oder ,Revolutionär' war oder sein wollte."
Trotz des Smokings muss man sich Udo Jürgens als sehr lässigen Typen vorstellen. Als die Tageszeitung Der Standard aus den Videoprojektionen von Udo Jürgens' 2012er-Tournee homophobe Untertöne herauslesen wollte, rief der Künstler umgehend persönlich in der Redaktion an. Nicht um den Verfasser des Artikels herunterzuputzen, sondern um ihm wortreich zu versichern, dass er keineswegs etwas gegen Schwule und Lesben habe.
Im Anhang seiner Autobiografie hat er einige besondere Artikel über sich versammelt und mit Erklärungen versehen. Ist Udo eitel? Sicher. Noch mehr aber ist er vom Wunsch getrieben, nicht nur geliebt, sondern auch verstanden zu werden.
Lieber Udo Jürgens, hiermit sei Ihnen versichert: Sie sind der allerbeste Udo Jürgens, den man sich vorstellen kann!