

Angela Merkel und der Wiener „Wunderwuzzi“ Kurz
Claus Heinrich in FALTER 12/2017 vom 24.03.2017 (S. 19)
Der Journalist Robin Alexander rekonstruiert, wie es zur Grenzöffnung im Sommer 2015 kam – inklusive der Rollen Faymanns und Kurz’
Ein halbes Jahr vor der Bundestagswahl in Deutschland ist völlig ungewiss, ob Angela Merkel Kanzlerin bleiben wird. Grund für die unerwartete Spannung ist die Nominierung des sozialdemokratischen Überraschungskandidaten Martin Schulz, der auf eine erschöpft wirkende Amtsinhaberin trifft, die offensichtlich unter den Nachwirkungen ihrer hochumstrittenen Flüchtlingspolitik leidet.
Die beschreibt der deutsche Journalist Robin Alexander in seinem Buch mit dem bezeichnenden Titel „Die Getriebenen“ und liefert dabei interessante Blicke hinter die Kulissen der deutschen und europäischen Politik. Er gibt zumindest Teilantworten auf die entscheidenden Fragen: Wie kam es zu den Grenzöffnungen in Österreich und Deutschland? Warum haben Merkel und ihr damaliger Amtskollege Werner Faymann nach der Aufnahme in Ungarn festgesetzter Flüchtlinge die Grenzen weiter offen gelassen? Und warum ist Merkel stur bei der Politik der offenen Grenzen geblieben, als Österreich den Schalter wieder umgelegt und Obergrenzen eingeführt hat?
Alexander beruft sich bei seinen zum Teil intimen Erzählungen aus dem Maschinenraum der Macht auf Quellen, die er nicht preisgeben mag. Als Leserin und Leser muss also jeder für sich entscheiden, ob er dem Autor und seinen Informanten trauen mag oder nicht. Etwa wenn er wissen will, dass Angela Merkel auf dem Wanderurlaub im Sommer 2015 – also wenige Wochen vor der legendären Grenzöffnung am 13. September – beschlossen hat, das umstrittene Dublin-Abkommen aufzugeben, das Deutschland und Österreich jahrelang von den Lasten der europäischen Flüchtlingshilfe entlastet hatte. Die Frontstaaten Italien und später auch Griechenland beschwerten sich nun auch nach Merkels Überzeugung zu Recht über fehlende europäische Solidarität. Eine einsame Entscheidung der Kanzlerin also, ebenso wie die spätere Grenzöffnung für die syrischen Flüchtlinge in Ungarn, zu der sie Werner Faymann telefonisch gedrängt haben soll.
Seehofer ging nicht ans Telefon
Böses ahnend wollte Merkel CSU-Chef Horst Seehofer informieren, um ihn in die politische Mitverantwortung zu nehmen. Doch der hatte sich in seinem Wochenendhäuschen verschanzt und ging einfach nicht ans Handy. Eine Woche später ist Seehofer freilich dabei, als Merkel eine Telefonkonferenz einberuft, bei der Innenminister Thomas de Maizière zeitlich befristete Grenzkontrollen vorschlägt. Alle haben zugestimmt, berichtet Alexander. Auch Merkel, die später immer wieder voller Inbrunst erklären wird, dass Grenzkontrollen doch eigentlich gar nicht möglich seien. Tatsächlich werden die von den Koalitionsspitzen einmütig beschlossenen Zurückweisungen für Asylsuchende aber nicht durchgeführt. De Maizière strich die entscheidende Passage im Grenzerlass wieder. Ob wegen rechtlicher Bedenken aus seinem eigenen Ministerium oder auf Druck der Kanzlerin, mit der er angeblich mehrfach hierzu telefoniert haben soll, bleibt offen und bis heute strittig.
Täglich ruft Faymann in dieser Zeit an, um sicherzustellen, dass es bei der deutschen Übernahmegarantie für die Balkanflüchtlinge bleibt. Bis der zunehmende Druck der ÖVP den österreichischen Kanzler zum Einknicken zwingt. Dann ist es Merkel, die von Faymann garantiert haben will, dass die geplanten Asylrestriktionen in Österreich nicht den für sie inakzeptablen Begriff „Obergrenze“ tragen werden. Denn genau das fordert ja CSU-Chef Seehofer ultimativ auch für Deutschland.
Faymann lässt Merkel außen vor
Doch die Zeiten waren auf einmal vorbei, in denen Merkel noch spöttisch über ihren damaligen Amtskollegen aus Wien sagen konnte: „Er kommt mit keiner Meinung rein und geht mit meiner Meinung raus.“ Faymann lässt Merkel im Regen stehen.
Aber es kommt noch ärger, denn nun schlägt die Stunde von Österreichs Außenminister Sebastian Kurz, der mit Merkels „Wir schaffen das“-Politik ohnehin nichts anfangen konnte. Und das auch immer wieder in deutschen Medien sagte. Kurz setzte sich an die Spitze der europäischen Anti-Merkel-Bewegung und bastelte an einem Westbalkan-Abkommen zur dominoartigen Grenzschließung, während zeitgleich Merkel ihre Ideologie der offenen Grenzen durch einen Pakt mit dem zunehmend autokratischer regierenden türkischen Präsidenten Erdoğan zu retten versuchte. Der sollte die von der Türkei nach Griechenland übergesetzten Flüchtlinge wieder zurücknehmen – gegen Cash und Übernahme bestimmter Flüchtlingskontingente durch die EU, so der Merkel-Plan.
Es entbrannte ein „Wettlauf mit dem Wunderwuzzi“, dem Alexander ein ganzes gleichnamiges Kapitel widmet. Besonders provoziert hat die angeblich mächtigste Frau Europas, dass der blutjunge Politnovize ihre Autorität unterminiert, als er vor dem entscheidenden EU-Gipfel aus der vertraulichen Schlusserklärung zitiert und triumphierend behauptet, Deutschland werde der Schließung der Balkanroute zustimmen. Merkel kann nur noch wutentbrannt eine halbwegs das Gesicht wahrende Formulierung durchsetzen, die die Schließung der Balkanroute nunmehr wie einen Schicksalsschlag erscheinen lässt und die politischen Entscheidungen, die ihr zugrunde liegen, schlicht unerwähnt lässt.
Die Ironie der Geschichte: Es ist doch gerade die Schließung der mazedonischen Grenze Griechenlands, die Merkels politisches Überleben sichert. Vorerst. Denn Merkel hat sich durch den Deal mit der Türkei dem unberechenbaren Präsidenten Erdoğan ausgeliefert. Der nur zu gerne damit kokettiert, dass er die drei Millionen Flüchtlinge, die er vertragsgemäß in seinem Land beherbergt, jederzeit Richtung Westen ziehen lassen kann. Keine guten Aussichten für den sommerlichen deutschen Bundestagswahlkampf.