

Sebastian Fasthuber in FALTER 47/2009 vom 20.11.2009 (S. 20)
In seinen vergnüglich zu lesenden Tagebüchern präsentiert sich Helmut Krausser als das verkannte Autorengenie unserer Zeit. Trotz seiner Ambitionen zum Dichterfürsten hegt er aber auch ein Faible für andere Künste. Neben der Musik ist es besonders der Film, der sich auf einige Texte stark ausgewirkt hat. Und so wie die frühen Romane "Fette Welt" und "Der große Bagarozy" nach Verfilmungen verlangten und sie schließlich auch bekamen, könnte es "Einsamkeit und Sex und Mitleid" wieder auf die Leinwand schaffen. Wobei das Buch hier ohnedies schon der halbe Film ist. Krausser führt ein paar Tage und Nächte durch Berlin und zeigt Menschen zwischen Liebe und ungestillter Sehnsucht, Freude und Schmerz. Mit geschickten Schnitten führt er die zunächst getrennten Handlungsstränge zueinander und lässt sie streckenweise parallel laufen.
Im Unterschied zu Kraussers erklärtem Lieblingskitschfilm "Love Actually" endet das Buch nicht zu Weihnachten, sondern beginnt schon mit Bildern von Paaren am Heiligen Abend: Ein Callboy ertappt bei sich zuhause eine junge Stadtstreicherin beim Einbrechen; ein zwangsfrühpensionierter Lateinlehrer und eine schwarze Kellnerin sind gemeinsam einsam; und eine taffe Businessfrau trennt sich kaltschnäuzig von ihrem wenig erfolgreichen Mann.
Bis in dem modernen Märchen am Ende alles gut werden darf ("als berühre gerade der Finger einer bedingungslosen, umfassenden Liebe alle Dinge, Tiere und Menschen dieser Welt"), gibt es Berge und Täler zu überwinden. Ein Erfolgsmensch wird von seiner Gespielin verlassen, ein Punk will heiraten, ein notgeiler Araber und ein fundamentalistischer Christ buhlen um ein Mädchen. Der Sex steht dabei oft nur den Gefühlen im Weg, oder umgekehrt: Als die Businessfrau sich eines Tages den Callboy bestellt, will der ihr partout nicht in den Mund ejakulieren. Er habe eine Freundin und bei der Arbeit daher seine Grundsätze: "Ich spritze nie ab."
Nachdem seine letzten Bücher von wechselhafter Qualität waren, ist Krausser nun wieder in seinem Element und schließt an die Romane aus den 90er-Jahren an. Tom Tykwer, bitte übernehmen!