

Traumadeutung
Lina Paulitsch in FALTER 43/2022 vom 28.10.2022 (S. 29)
Es sei für seine Person nur folgerichtig, das Schreiben zum Beruf zu machen, schreibt Kim de l'Horizon im Roman "Blutbuch". In der Sprache wäre es möglich, sich zu verflüssigen, zu "verdünnisieren". Und diese Fluidität entspreche de l'Horizons Innerstem, das weder eindeutig männlich noch weiblich, also geschlechtlich non-binär ist.
Unerwartet ging der diesjährige Deutsche Buchpreis an Kim de l'Horizons Debütroman. 1992 in der Schweiz geboren, ist die Autorenfigur seit vergangener Woche in aller Munde. Von den Kritikern für die sprachliche Wucht gefeiert, überschütten Internettrolle de l'Horizon mit Hass. Weil de l'Horizon es wagte, mit Bart, Lippenstift und Pailettenkleid zur Preisverleihung zu erscheinen. Auf der Frankfurter Buchmesse wurde Personenschutz bereitgestellt.
"Blutbuch" ist eine Autofiktion, die in essayistischer, brief-und tagebuchähnlicher Prosa um die eigene geschlechtliche Identität und Herkunft kreist. Weibliche oder männliche Formen werden grammatikalisch unterlaufen, konsequent Sternchen gesetzt und "man" durch "mensch" ersetzt.
Ein Baum, die Blutbuche, ist literarischer Fluchtpunkt und Allegorie der eigenen Wurzeln. Die Buche steht im Garten der Großmutter. An die demenzkranke Verwandte adressiert de l'Horizon auch den Roman, bereitet Gedanken und Reflexionen für sie auf. De l'Horizon nennt sie "Grossmeer", angelehnt ans Französische "mère" für Mutter und ans Meer, an den Ozean voller Abgründe und Geheimnisse.
De l'Horizon ergründet die Familiengeschichte. "Die Suche nach Schwemmgut" heißt der erste Teil des Buches, in dem Anekdoten aus der Kindheit zur Großmutter hinund zum eigenen Selbst zurückführen. Nostalgisch, manchmal ein wenig weinerlich, lesen sich die ersten 100 Seiten. Angereichert mit Schweizer Begriffen ("Meertrübelibrot", "Meitschi") umkreist de l'Horizon die Kindheit, die großmütterlichen Hände, Warzen auf den Füßen, Himbeerstauden im Garten.
Doch im Laufe der Erzählung steigert sich das Tempo. Die Gegenwart rückt näher, holt die Vergangenheit ein. Hitzige, atemlose Sätze reihen sich aneinander, ein verzweifelter Schreibexzess wird zum Versuch, sich selbst zu fassen. "Ich spüre meinen Körper nur, wenn ich ihn fortgebe, wenn ich ihn anderen anbiete, jemensch in mich eindringt."
De l'Horizon beschreibt den Eintritt in die Züricher Schwulenszene, die den "hochkuratierten Muskelkörper" in seiner Männlichkeit zelebriert. Kim fühlt sich nicht zugehörig. Sexualität erlebt de l'Horizon als permanent verfügbare Erfahrung, um sich zu entäußern. Wie eine Sucht hat Sex weniger mit Sinnlichkeit als mit Selbstverletzung zu tun.
Auf Englisch, der Sprache der Sex-Apps, formuliert das Enkelkind seine abschließenden Briefe an die "Grossmeer". Die eigenen Probleme seien bloß "Privilegien", die Generation der heute 30-Jährigen "apolitische Selbstverwirklicher". Es sei die - wiederum nicht unbedingt politische -"Aufgabe unserer Generation", die Traumata der Ahnen zu enttarnen und sie nicht weiterzuvererben.
Literarisch innovativ ist das passagenweise nicht. Spätestens seit Freud gehört es zum guten Ton der Bildungselite, sich unermüdlich an den (Groß-)Eltern abzuarbeiten. Überzeugender ist das "Blutbuch" im Hier und Jetzt. Dort, wo Exzess und Funk zu tabuloser Prosa zusammenlaufen, entsteht das stilechte Porträt einer Generation.