

Das Friesenhuss und die Friesenapotheke
Stefan Ender in FALTER 41/2011 vom 14.10.2011 (S. 7)
"Gegen die Welt", Jan Brandts Porträt einer Familie aus der nordwestdeutschen Provinz, ist aus dem Ruder gelaufen
Er will es immer ganz genau haben. Will Jan Brandt dem Leser seines Romans "Gegen die Welt" einen Überblick über den Heimatort seines Romanpersonals – die ostfriesische Ortschaft Jericho (!) – verschaffen, dann macht er das wie folgt:
"Im Norden konnte man das Komponistenviertel, die Ausschachtungen, die Mülldeponie und die Kreisstadt sehen, im Westen die Bahngleise, das Stellwerk, die Molkerei und Schlachterei und den Hammrich dahinter, das Strandhotel, die Puddingfabrik drüben am Deich, im Süden Petersens Poolhalle, den Güterschuppen, Rosings Werkstätten, den Raiffeisen-Markt, das Industriegebiet jenseits der Bundesstraße und im Osten das Zentrum des Dorfes: die Dorfstraße, die Post, Schuh Schröder, die Schmiede und Eisenwarenhandlung von Didi Schulz, das Friesenhuss und die Friesenapotheke (...)."
Willkommen im New Realism der deutschen Literatur. Liest da noch jemand? Gut 900 Seiten nimmt der erste Roman des 1974 im ostfriesischen Leer geborenen Deutschen ein. Davon sind locker 500 beschwerender, beschwerlicher Ballast.
Was erstens ärgerlich ist, weil der Kern des Buches – das Porträt einer Familie aus der nordwestdeutschen Provinz in der Zeit vor und nach der Wende – hervorragend gelungen ist; und was zweitens die Frage aufwirft, ob bei DuMont in Köln noch Lektoren beschäftigt sind
Da gibt es Ausführungen über Weltuntergangsspintisierereien von Nebenfiguren, die man separat als 100-seitige Novelle hätte ausgliedern könnte (nicht, dass diese irgendjemand gekauft hätte, aber dem Roman hätte es gutgetan). Da gibt es Mystery- und Suspense-Begleitmusiken im Marathon-Erzählkonzert, die den Leser ausdauernd begleiten und zum Ende hin eher unharmonisch, jedenfalls aber unbefriedigend aufgelöst werden.
Und da gibt es seitenlange, nicht und nicht enden wollende Die-Zeit-totschlag-Unterhaltungen zwischen dem leisen traurigen Helden des Romans, Daniel Kuper, und seinem Freund Onno: über Heavy-Metal-Bands, über die Schule, über irgendwas. Brandt bekommt die Gespräche wirklich fantastisch hin, hyperrealistisch in ihrer Ödnis, Ziellosigkeit, Belanglosigkeit. Aber will man – muss man à la Reich-Ranicki gallig-grollend fragen –, will man so etwas auch in dieser aussaugenden Ausführlichkeit lesen? Man will es nicht.
Karen Duve hat in ihrem Erzählband "Keine Ahnung" Medikamenten- und Alkoholabusus prägnanter beschrieben, Rocko Schamoni in "Dorfpunks" eine Provinzjugend drastischer geschildert, Florian Illies das Porträt der "Generation Golf" deutlich besser hinbekommen.
Und doch steckt in "Gegen die Welt" ein sehr gutes Buch. Die Binnenschilderung der Drogistenfamilie Kuper (Vater Hard, der Dorf-Don-Juan, Mutter Birgit und die Zwillinge) ist von gediegener handwerklicher Qualität. Jeder Dialog, jede Aktion sitzt, passt, wie maßgeschneidert vom großen Geschichtenmacher mit Namen Deutscher Alltag. Auch die Beschreibung des Sozialgefüges im Ort, die Verflechtungen und Interdependenzen der Dorfbewohner, die Darstellung der wirtschaftlichen Veränderungen in der Zeit vor und nach der Wende sind hochpräzise und detailreich.
Die Unaufgeregtheit und blasse Nicht-Besonderheit der Sprache von Jan Brandt hat ihren Spiegel im Charakter des stillen Protagonisten des Buchs. Daniel Kuper ist ein Held, dessen fiktionales Leben eine Vita Dolorosa darstellt, welche mit einem Trauma beginnt und eine noch traumatischere Fortsetzung findet. Kuper wird vom Außenseiter zum Geächteten und schließlich zum Gejagten. Das Schicksal der Kreuzigung bleibt dem Sohn Jerichos gerade noch erspart.
Doch Daniels Lebenslauf ist nicht der einzige, der einer Höllenfahrt gleicht, auch etlichen seiner Schulfreunde ergeht es mit den Jahren eher suboptimal. Peter "Penis" Peters, gern gewähltes Schikaneopfer, bringt sich noch in der Schulzeit um. Onno, nach einem Unfall teilgelähmt, scheidet danach freiwillig aus dem Leben. Stefan, das Forschergenie, wird verrückt, und Rainer stirbt bei einem Autounfall. Etwas dick aufgetragen? Ja. Doch das biblisch Beladene ist Brandts Debüt ja schon im Namen der Ortschaft immanent.
Biblisch beladen fühlt man sich auch als bezahlter Leser des Buches. "Ist das Mut oder Hybris?", fragte sich der Rezensent der Süddeutschen Zeitung in seiner Besprechung des Buches (um freundlicherweise zu Ersterem zu tendieren). Die Frage ist falsch gewählt: "War der Lektor unvermögend oder der Autor zu beharrlich in der Durchsetzung seiner Ideen?", so müsste man fragen. Wahrscheinlich war beides der Fall. Und das ist schade.