

Geschieden, geköpft, gestorben
Sigrid Löffler in FALTER 13/2020 vom 25.03.2020 (S. 38)
Bis vor zehn Jahren war sein Name außer in Fachkreisen völlig vergessen, heute kennt ihn die ganze bücherlesende Welt: Thomas Cromwell, den genialen Staatsmann und zweitmächtigsten Mann Englands am Hofe des notorischen Tudor-Königs Heinrich VIII. Diese Auferstehung aus den Sarkophagen der Geschichtsschreibung verdankt sich dem monumentalen historischen Romanzyklus der britischen Autorin Hilary Mantel, deren erste beiden Cromwell-Romane „Wölfe“ (2009) und „Falken“ (2012) es jeweils zu Weltbestsellern in Millionenauflage brachten. Beide gewannen den renommierten Booker-Preis und wurden höchst erfolgreich fürs Fernsehen und für die Bühne adaptiert.
Erzählt wird darin der phänomenale Aufstieg Cromwells, Sohn eines Grobschmieds, zum allmächtigen Minister und Schatzkanzler, indem er sich Heinrich VIII. als dessen engster Ratgeber, Chefstratege und Top-Diplomat unentbehrlich macht. Er fädelt die Scheidung des Königs von dessen erster Frau ein, steuert das Reich durch den unvermeidlichen Bruch mit Rom, befördert die englische Reformation und bringt eine eigenständige anglikanische Kirche auf den Weg – mit dem König statt dem Papst als Oberhaupt. Er löst die englischen Klöster auf, leitet deren Einkünfte dem König zu und arrangiert die zweite Ehe Heinrichs mit der Hofdame Anne Boleyn sowie deren Sturz, als der König sie satthat, weil auch sie keinen männlichen Thronerben produziert, kurzum: Er macht für den König die Drecksarbeit.
Hilary Mantel zeichnet Cromwell als schillernden Mann der Aufklärung und anbrechenden Moderne, der als vielseitiger Reformpolitiker seiner Zeit weit voraus ist – brillant, belesen, mehrsprachig, weitgereist in Europa, weitblickend und loyal. Im Dienst seines Königs ist er auch zu manchen Ruchlosigkeiten fähig.
Die beiden ersten Bände endeten jeweils mit einer Enthauptung. In „Wölfe“ („Wolf Hall“) starb Cromwells Erzfeind unter dem Henkersbeil, der Humanist und katholische Märtyrer Thomas Morus – bei Mantel ein starrsinniger Dogmatiker, fanatischer Frömmler und Folterer. Und „Falken“ („Bring Up the Bodies“) schloss 1536 mit der Hinrichtung von Queen Anne im Tower – einem exquisit choreografierten Henkersballett, dem Cromwell, nun auf dem Höhepunkt seiner Macht, als Augenzeuge beiwohnt, während er längst die dritte Ehe des Königs vorantreibt.
Nun, nach achtjähriger Wartezeit, liegt der weltweiten Cromwell-Fangemeinde endlich der ersehnte Abschlussband der Trilogie vor: „Spiegel und Licht“ („The Mirror & the Light“), ein gewaltiges, über tausend Seiten umfassendes Finale, in dem Cromwells Abstieg und Sturz erzählt wird. Der Roman versetzte die anglo-amerikanische Kritik überwiegend in ekstatischen Jubel. Im Überschwang der hymnischen Begeisterung schienen ihr selbst Vergleiche mit Vergils „Æneis“ und Tolstois „Krieg und Frieden“ nicht zu hoch gegriffen.
„Spiegel und Licht“ setzt Sekunden nach der Enthauptung Anne Boleyns ein und endet vier Jahre später am selben Ort mit der Hinrichtung Cromwells auf dem Schafott. Die Vorgänge sind allgemein bekannt. Die Kunst muss also darin liegen, die Geschichte spannend zu erzählen, obwohl wir den Ausgang kennen. Und dazu ist niemand besser befähigt als Hilary Mantel. Sie hat es geschafft, die Tudor-Zeit, eine in England von der Unterhaltungsindustrie völlig abgenudelte Epoche, ausgebeutet als ewige Goldgrube für Seifenopern und Kolportageschmöker, mit ihrer großen Kunst zu adeln. Quasi im Alleingang hat Mantel das ausgelaugte Genre des historischen Romans vom Ruch des Kostümschinkens befreit und aus den Niederungen der Trivialliteratur in unerreichte Höhen eines dokumentarischen historischen Tatsachenromans hochgeschrieben.
Das gelingt der Autorin vor allem kraft zweier literarischer Kunstgriffe. Sie erzählt diese 500 Jahre alten Geschehnisse durchgängig in einem atemberaubend rasanten Präsens, reich durchwirkt mit schneidigen, schlagfertigen und oft sehr witzigen Dialogen, die im Leser ein Jetztgefühl des direkten Dabeiseins erzeugen. Außerdem verzichtet Mantel auf die wohlfeile Instanz eines allwissenden Erzählers und wählt stattdessen die subjektive, personale Erzählform. Sie versetzt sich in das Bewusstsein ihres Helden, indem sie alle Vorgänge aus dessen Perspektive schildert. Was Cromwell in seinen letzten vier Lebensjahren tut, was er denkt, fühlt, plant, träumt und fürchtet und was ihm geschieht, wird uns auf diese Weise ganz unmittelbar nahegebracht. Wir sind als Leser mit Cromwell in der krawalligen, gewalttätigen, gefährlichen, unerhört sinnlichen und farbenprächtigen Welt der englischen Renaissance unterwegs.
Und es passiert eine Menge in diesen vier Jahren. Allerdings kann Cromwell, der doch die englische Politik souverän zu dirigieren, seinen launischen König diskret zu lenken und seine Feinde gekonnt auszuspionieren und in Schach zu halten verstand, die Ereignisse mit der Zeit immer weniger beeinflussen: Der Backlash der Papisten gegen seine Person und seine rigorose Reformpolitik hat eingesetzt, bei Hofe gewinnen die reaktionären Kräfte, angeführt vom Herzog von Norfolk und von Bischof Gardiner von Winchester, die Oberhand.
Weltliche und geistliche Dunkelmänner verbünden sich gegen Cromwell. Die alte Machtelite des feudalen Hochadels möchte den Selfmademan und gemeinen Emporkömmling, den Vorboten einer neuen, aus dem Volk aufsteigenden Leistungselite, gerne als Verräter gevierteilt sehen; und der papsttreue katholische Klerus würde den Architekten der englischen Reformation am liebsten als Ketzer auf dem Scheiterhaufen verbrennen. Entscheidend wird sein, welcher Seite der wankelmütige, zunehmend verrohende und verfettende König sich schließlich zuneigen und wann er seinen Günstling fallen lassen wird.
Die besondere Ironie liegt darin, dass Cromwell vom König bis zuletzt mit Titeln geradezu überhäuft wird. Er wird zum Lordsiegelbewahrer befördert, als Lord Cromwell in den Kronrat und den exklusiven Hosenbandorden aufgenommen und zum Earl of Essex, zum Stellvertreter des Königs und Statthalter der Kirche ernannt. Insgeheim nährt Cromwell kurz sogar die vermessene Hoffnung, der König könnte ihn im Bedarfsfall als Regenten einsetzen. „Lord Cromwell ist Regierung und Kirche in einem“, stänkern seine Feinde. Die Ränke- und Gerüchtemaschine seiner Neider bei Hofe beginnt auf Hochtouren zu laufen.
Paradoxerweise verübelt der König allmählich Cromwell just die Überfülle an Ämtern und Ehren, die er ihm selbst verliehen hat. Und Cromwells Feinde bestärken ihn in seiner Paranoia. Höflinge streuen das Gerücht, Cromwell plane, Heinrichs älteste Tochter Mary Tudor zu heiraten, um selbst auf den Thron zu gelangen. Prompt fühlt sich Heinrich durch Cromwells Machtfülle bedroht: Der Mann wächst ihm über den Kopf. Ihn einen Kopf kürzer zu machen ist dann nur noch eine Frage der Zeit – und die arbeitet gegen Cromwell. Ein Anlass muss gefunden werden – und er findet sich. Am Ende muss Mantels Held begreifen: „Nicht seine Misserfolge, sondern seine Erfolge bringen ihn zu Fall.“
Hilary Mantels gesamte Trilogie dreht sich um das beherrschende Thema der Regierungszeit Heinrichs VIII. und dessen dynastische Obsession. Politik ist für ihn immer nur Heiratspolitik, mit allen grausigen und tragikomischen Folgen. Denn der Tudor-König kann sich auf dem Thron nicht sicher fühlen. Ihn bedrängen Adelsfamilien, die ihren jahrhundertealten Thronanspruch bis auf das Herrscherhaus der Plantagenets zurückführen können und den Tudor-König als „Sohn walisischer Pferdediebe“ verachten. Schon deshalb verschleißt Heinrich, der unentwegt auf Brautschau ist, in seiner manischen und immer wieder frustrierten Hoffnung auf einen männlichen Thronerben eine Königin nach der anderen. Seine Bündnispolitik ist davon ebenso bestimmt wie sein religiöser Brexit mit Rom, der England mehr als ein Jahrhundert lang in Glaubenskriege und fromme Aufstände stürzen wird.
Und natürlich beherrscht die Causa prima auch Cromwells tagtägliche Agenda. Zehn Jahre vorher hatte er aus nächster Nähe miterleben müssen, wie sein erster Mentor und Dienstherr, der allmächtige Lordkanzler Kardinal Wolsey, daran scheiterte, beim Papst die Annullierung von Heinrichs erster Ehe durchzusetzen, und dieses Versagen mit dem Leben bezahlte. Nun ist es Cromwells Job, dem König die Ehefrauen Nummer drei und vier zu beschaffen, von denen die eine leider im Kindbett stirbt und sich die Nachfolgerin, die deutsche Prinzessin Anna von Kleve, sich als Cromwells fataler Fehler erweist und diesem schließlich die Gnade des Königs und den Kopf kostet.
Und wie verhält sich Cromwell in seiner undurchsichtigen und zunehmend bedrohlicheren Lage? Er verstärkt sein Wachpersonal. Er trägt stets ein Messer im Wams. Ausgehöhlt vom Dienst an seinem despotischen Herrn fühlt er sich vom Kampf des Lebens „beschmutzt, zerfurcht und zernarbt“. Trotzig dekretiert er eine neue Rangordnung im Reich: „Von jetzt an ist es nicht mehr dein edles, altes Blut, das deinen Platz in der Hierarchie bestimmt, sondern das, was du für den König tust.“ Doch von der letzten Plantagenet-Herzogin muss er sich die Warnung anhören: „Lassen Sie sich auf keine Schlacht mit den edlen Familien Englands ein. Die haben Sie verloren, bevor sie überhaupt anfängt. Wer sind Sie? Ein einzelner Mann. Wer folgt Ihnen? Nur Aaskrähen.“
Vor allem müht sich Cromwell ab, den König zu lesen. In seinem geheimen „Buch Henry“ notiert er Merksätze für den Umgang mit ihm. Man kann nie voraussehen, was der König tun wird. Sag niemals, was er nicht tun wird. Sorge dafür, dass er nichts unternimmt, was er bereuen wird. Doch der schwierigste Trick funktioniert nicht mehr: „Was sein Herz berührt, ist, ihm zu geben, was er will. Und das in einer Form, dass er nicht weiß, was ihm gefehlt hat, bis er es bekommt.“ Trotz allem bleibt Heinrich für ihn immer noch „Spiegel und Licht der Christenheit“, während Cromwell selbst „sich nur im Spiegellicht des Königs dreht“.
Der dritte Band von Hilary Mantels packender Tudor-Trilogie ist endlich erschienen und erfüllt die hohen Erwartungen virtuos
Am Ende kann Cromwell seinen König nicht mehr davon abhalten, zu tun, was er bereuen wird. Am Tag der Hinrichtung seines besten und treuesten Dieners macht Heinrich die Hofdame Katherine Howard zu seiner fünften Ehefrau. Sie ist „saftig und drall und keine fünfzehn Jahre alt“ und außerdem ein kleines Luder. Keine anderthalb Jahre später wird sie Cromwell aufs Schafott folgen.F
König Heinrich VIII. Tudor (1491–1547): Der mit den sechs Ehefrauen, nach dem Merkspruch: „Geschieden, geköpft, gestorben, geschieden, geköpft, überlebt.“ Trug den päpstlichen Ehrentitel „Verteidiger des Glaubens“, ehe er den ersten Brexit provozierte – den Bruch Englands mit der römischen Kirche. Legte eine wüste Negativkarriere hin: vom jungen Strahlekönig zum gefürchteten Despoten – verfettet, blutrünstig und paranoid.