

Der Charme eines Strichmännchens
Jörg Magenau in FALTER 41/2012 vom 12.10.2012 (S. 13)
Matthias Zschokke erkennt in "Der Mann mit den zwei Augen" im scheinbar Nebensächlichen die Hauptsache
Warum ist das Interessante eigentlich interessanter als das Langweilige? Ist denn Langweiliges nicht auch interessant? Matthias Zschokke stellt gerne vertrackte Fragen wie diese.
In seinem neuen Roman mit dem seltsamen Titel "Der Mann mit den zwei Augen" geht es um einen Gerichtsreporter, der die alltäglichen Fälle den spektakulären vorzieht. "Das Normale kam ihm auf eine viel spannendere Art kompliziert und interessant vor." Daraus ergibt sich, dass er mit seinen Reportagen nicht allzu erfolgreich ist. Denn die Welt hat sich dafür entschieden, das Spektakuläre zu bevorzugen. Einer, der gegenüber Leuten, die interessant sein wollen, rasch die Geduld verliert, und der sich selbst für langweilig hält, ist in ihren Augen eben nichts als das: langweilig.
Matthias Zschokke ähnelt als Schriftsteller seinem "Mann mit den zwei Augen". 1954 in Bern geboren, lebt er seit 1980 in Berlin, hat zahlreiche Romane, Erzählungen, Theaterstücke geschrieben und auch diverse Preise erhalten und doch nie die Aufmerksamkeit bekommen, die er literarisch verdient hätte. Das liegt daran, dass er – wie all seine Helden – Nebensächlichkeiten den Vorzug gibt, dass er die leiseren Töne, das Abseitige und Einzelgängerische liebt und sich bescheiden im Hintergrund hält.
Er ist ein Robert Walser unserer Zeit, einer, der sich kleinmacht, um sich unter den Zumutungen seiner Mitmenschen wegzuducken. In Kafkas Gregor Samsa, der sich mit einem Chitinpanzer wappnet, erkennt er einen Artverwandten. Dass ihn die selbstgewählte Rolle eines Mannes, der gerne übersehen wird, auch ärgert, ließ er zuletzt in den fulminanten an einen Freund gemailten Lebensmitschriften "Lieber Niels" erkennen. Die Wut auf den Literaturbetrieb und alles Massenkulturhafte stand ihm gut, und sie grundiert nun auch den neuen Roman, der viel weniger freundlich ist, als man das von Zschokke bisher gewohnt war.
Der Rückzug ins Schweigen und in die Einsamkeit, den sein "Mann mit den zwei Augen" angetreten hat, wird immer wieder durchbrochen von langen, tiradenhaften Ausfälligkeiten: dem grotesk verschwurbelten Brief an eine Amtsrichterin etwa, in dem er sich über steigende Mieten beklagt, einer wahnwitzig geschraubten Begrüßungsrede an einen neuen Nachbarn, den überkandidelten Tresengesprächen mit einer Wirtin in der Kleinstadt Harenberg oder den sprachphilosophischen Ergüssen am Frühstückstisch, für die sich die Frau, die ihm da gegenübersitzt, allerdings überhaupt nicht interessiert. Sie spricht lieber über ihren Nagellack.
Aber es gibt in diesem Roman auch Handlung: Der Mann ist in die Kleinstadt Harenberg gezogen, um nach dem überraschenden Tod der Frau, mit der er zusammenwohnte, Erholung zu suchen. In seinen Erinnerungen entdeckt er, dass dieses rücksichtsvoll-distanzierte Zusammenleben vielleicht so was wie Liebe gewesen ist. Ein verspäteter Liebesroman also, während der Mann in der Kleinstadt genauso einsam ist, wie er es in der Großstadt war.
Zschokke hat seinen "Mann mit den zwei Augen" wie ein Strichmännchen in allergrößter Allgemeinheit konzipiert. Wer ihm begegnet, vergisst ihn gleich wieder, so unauffällig sieht er aus. Die Wirtin, die seine letzte Vertrauensperson ist, erkennt ihn selbst dann nicht wieder, nachdem sie auf sein Bitten hin einmal sogar mit ihm ins Bett gegangen ist. Die Geschichten von Katzen, Hunden, sinnlosen Reisen und quälenden Gästen, die der Mann erzählt, vergisst man aber nicht so leicht. Man könnte sagen: Dieser Roman handelt von Kommunikationsstörungen und Identitätsproblemen. Gespräche sind unmöglich, denn sie missraten regelmäßig zu absurden Monologen. Nähe ist kein Ziel, denn den Menschen ist besser aus dem Weg zu gehen.
Sexualität erscheint als geschäftsmäßiger Akt, und zwar in den verschiedensten Varianten. Da wird Zschokke ziemlich derb und direkt. Das Geschlechtliche beschreibt er so, wie er auch Bewegungen im Straßenverkehr beschreibt: als äußerlichen Vorgang, dem er als bloßer Beobachter beiwohnt. Ähnlich kühl taucht die Erinnerung an eine Vergewaltigung durch einen alten Herrn auf, wie sie der Mann als Junge auf dem nächtlichen Nachhauseweg erlebte. Vielleicht hat es damit zu tun, dass das Sexuelle jeden Bezug zu den Gefühlen verloren hat und dass es schambehafteter ist, mit jemandem ins Gespräch kommen zu müssen, als die Geschlechtsteile aneinanderzureiben. Diese Gestörtheiten werden jedoch nicht psychologisiert oder auch nur kommentiert. Sie werden mit ungerührter Miene als Normalität zur Kenntnis genommen.
Man könnte diesen Roman deshalb sehr gut gesellschaftskritisch lesen, als abgründiges Manifest gegen den Kapitalismus, der nicht nur die Brötchen in Aufbackbatzen und überhaupt die Dinge in billige Waren verwandelt und damit vernichtet, sondern auch die Beziehungen zwischen den Menschen zerstört. Aber die gesellschaftskritische Schublade wäre zu klein für diesen Autor und ein Buch voller Wut und Witz und Boshaftigkeit, das nur so überquillt vor Geschichten und der Lust am Erzählen.
Zschokke macht aus Nebensächlichkeiten große Literatur und verwandelt das Langweilige in etwas Aufregendes. Sein Weg ist dem der vielen, den er in der Gesellschaft überall beobachtet und beklagt, genau entgegengesetzt.