

Die Angstsaat der Oma geht in der Enkelin auf
Ulrich Rüdenauer in FALTER 41/2015 vom 07.10.2015 (S. 24)
In ihrem Debüt zeigt Anna Baar eine junge Frau, die zwischen die Fronten gerät und um ihre eigene Identität und Sprache ringt
Jeden Sommer überquert die Erzählerin in Anna Baars Debütroman „Die Farbe des Granatapfels“ die Grenze: Tochter eines Österreichers und einer Kroatin, verbringt sie die Ferien bei ihrer dalmatinischen Großmutter Nada. Für ein paar Wochen lässt sie „Esterraich“, das Land der „Ibermenschen“, wie die Großmutter die Heimat der Enkelin verächtlich nennt, hinter sich.
Es ist nicht nur eine virtuelle Linie zwischen zwei Staaten, sondern vielmehr ein tiefer Spalt, den die Geschichte aufgerissen hat: Nada stand während des Zweiten Weltkriegs auf der Seite der Partisanen, und die erlittenen Gräuel haben sie hart und ängstlich, eigensinnig und neurotisch gemacht.
Dem Kind gefallen die Wucht und Zwiespältigkeit der kettenrauchenden Großmutter ebenso sehr, wie es diese und deren Marotten fürchtet. Die Beziehung nennt die Zurückblickende ein „Trauerspiel“, an dem sie sich seit eh und je „schadenklug“ und „kleinlaut“ entlangtastet. Zwischen den beiden herrscht ein uneingestandener Kampf. Die „Angstsaat“ der Großmutter geht in der Enkelin auf, der die maßlose und von Eifersucht durchdrungene Liebe Nadas zugleich auch schmeichelt.
Baars jugendliche Heldin muss die Gegensätze zwischen dem Leben in der österreichischen Alltagsnormalität, das fast ganz im Dunkeln bleibt, und der Kargheit in Kroatien in sich ausbalancieren und entwickelt auf durchaus leidvolle Weise eine Sensibilität für die Zwischentöne und die Details der anderen Landschaft und Mentalität, wobei die Kontraste und Ambivalenzen dieser geteilten Welt in der Pubertät noch verstärkt werden.
Das Dazwischenstehen ist das eigentliche Thema dieses Coming-of-Age-Romans, der von Sprachlosigkeit und Ermächtigung durch Sprache erzählt. Weil das Deutsche während der Ferien bei der Oma verpönt ist, gibt es für die Jugendliche keine Selbstverständlichkeit des Sprechens. Heimlich macht sie sich abends bei Kerzenlicht Notizen. „Im Schreiben konnte man die Vatersprache gebrauchen, die leibliche Sprache, in der man für Wochen schwieg und doch fortwährend dachte, träumte und empfand. Und zweifellos war es klüger, das Hingeschriebene vor Nada geheim zu halten, sonst wieder ihre hochgezogene Braue, ihr schräger Blick: Mörderzunge.“ Mit dieser „Mörderzunge“ spürt sie den Dingen und dem Wesen der Großmutter nach. So wird man zur Autorin.
Anna Baar, 1973 in Zagreb geboren und in Klagenfurt lebend, findet für dieses Zur-Welt-Kommen durch die Sprache einen lyrischen, sinnlichen Ton, der zuweilen zur Schnörkelhaftigkeit neigt: Erinnerungsblüten, die üppig sprießen und wuchern, sich fast zu dekorativ um die Gegenstände ranken und aus einem Bildfundus stammen, der leicht angestaubt wirkt: Das noch flatternde Huhn mit abgehacktem Kopf als Symbol einer archaischen Welt darf ebenso wenig fehlen wie die unvermeidliche Mahnung der Großmutter, saubere Unterwäsche zu tragen – droht doch stets ein Unglück, das einen ins Krankenhaus bringen könnte.
Auch der Beschreibung des Abschieds von der Kindheit wird noch ein poetisches Schleifchen angehängt, das den vorhergegangenen Sätzen die Schau zu stehlen sucht und dabei ein bisschen abgeschmackt wirkt: „Das Blut kam über Nacht. An einem Sommermorgen war es da, als folgte es einem angeborenen Gesetz, und doch ungeahnt und nicht herbeigewünscht, wie der Aprilschnee auf noch zarten Knospen.“
Und doch geht von Baars Vergegenwärtigungsbuch ein Sog aus, weil es in immer wieder neuen Anläufen nach eigenen Worten sucht, die das Prägende wiedergeben könnten: die Schönheit und Grausamkeit des Erwachsenwerdens; die verworrene Herkunft; die Katastrophe des Zweiten Weltkriegs, dessen Echo noch in den Nachgeborenen hallt und im Jugoslawienkrieg eine brutale Aktualisierung erfahren hat.
Und weil Baar und ihre Erzählerin wissen, dass „Wahrheit eine Erfindung“ ist, verharrt dieser Roman nicht in einer naiven Kinderperspektive, sondern entwickelt gleichsam in Schleifen eine illusionslose und skeptischer werdende Vergangenheitssicht, die Traurigkeit ebenso zulässt, wie sie ein behutsames Verständnis ermöglicht.